Diese Informationen wurden in sogenannten Regionalbeschreibungen (difangzhi, 地方志) zusammengestellt, die uns heute für das Studium der Regionalgeschichte Chinas als wichtige Primärquellen dienen. Zwar sind viele Regionalbeschreibungen verlorengegangen, doch etwa 8.000 Titel sind erhalten, die insgesamt einen Zeitraum vom 10. bis zum 20. Jahrhundert umfassen und fast alle besiedelten Regionen des historischen China abdecken. In den Regionalbeschreibungen sind nicht nur geographische Landschaften dokumeniert, sondern auch regionale Flora und Fauna, Produkte, Tempel und Schulen, Beamte und Berühmtheiten, Kultur, Bräuche und vieles mehr. Sie liefern nicht nur der Geschichtsforschung eine Fülle von Informationen, sondern eignen sich aufgrund ihrer konsistenten und datenbankähnlichen Struktur auch ideal für die digitalen Geisteswissenschaften.
Die Local Gazetteers Working Group am MPIWG beschäftigt sich seit 2013 mit den chinesischen Regionalbeschreibungen und erfasst diese gedruckten Materialien durch Umwandlung in eine erweiterte wissenschaftliche Datenbank für neue Formen der digitalen historischen Analyse. Obgleich die Regionalbeschreibungen gut erforscht sind, stellt die schiere Menge der dort enthaltenen Informationen für die Wissenschaft eine ebenso einzigartige Herausforderung wie Chance dar. Wir wollen daher das Potenzial der digitalen Geisteswissenschaften nutzen, um diese Gattung für die Auseinandersetzung mit breit angelegten Kernfragen der chinesischen Geschichte voll ausschöpfen zu können. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen steht die Entwicklung einer Reihe von digitalen Forschungstools, den Local Gazetteers Research Tools (LoGaRT).
Was sind LoGaRT?
LoGaRT ist eine Software für die Suche, Analyse und Sammlung von Daten aus digitalisierten chinesischen Regionalbeschreibungen. Durch Analysefunktionen wie Volltextsuche, Geovisualisierung, Textauszeichnung und -extraktion bietet LoGaRT den Forschenden eine Vogelperspektive auf eine Sammlung von Regionalbeschreibungen, die über das Durchblättern und Lesen der einzelnen Regionalbeschreibungen hinaus geht. Die Philosophie dahinter ist, alle verfügbaren digitalisierten Regionalbeschreibungen als konzeptionelle Datenbank für die historische Suche zu behandeln. Diese ermöglicht es den Forschenden, ihre Suche in einem größeren Maßstab anzulegen, der nicht zwangsläufig auf geografische Regionen, Zeiträume oder einzelne Regionalbeschreibungen begrenzt ist. Entsprechend dieser Philosophie und diesem Forschungszweck liefert LoGaRT eine Gruppe von digitalen Werkzeugen für (1) die raum- und zeitübergreifende Suche in Regionalbeschreibungen, (2) die Anzeige von Suchergebnissen und (3) die Sammlung von Daten und Kodierung der Bedeutung von Texten und Bildern durch Auszeichnung mit Tags.
Digitalisierung für Open Access
Die Fortschritte in den digitalen Geisteswissenschaften, und damit auch Tools wie LoGaRT, haben zwar die Arbeitsabläufe in der Wissenschaft verändert, doch die Forschungsmöglichkeiten hängen weiterhin von der Verfügbarkeit der Primärquellen ab. Ähnlich wie Historikerinnen und Historiker für den Erwerb von Quellen aus einzelnen Archiven eine Genehmigung einholen müssen, sind auch digitale Forschungstools darauf angewiesen, dass für bestehende digitalisierte Quellen eine entsprechende Lizenz vorliegt. Leider stammt die Mehrheit der auf dem Markt erhältlichen digitalisierten Regionalbeschreibungen aus teuren Datenbanken, die von Verlagen gewinnorientiert vermarktet werden. Diese Situation verhindert eine breitere Anwendung digitaler Tools und einen gerechteren Zugang zu digitalisierten Quellen. Parallel zur technischen Entwicklung von LoGaRT haben wir daher Strategien verfolgt, um die Verfügbarkeit von digitalisierten Open-Access-Regionalbeschreibungen zu erhöhen.
In Zusammenarbeit mit der Harvard-Yenching Library, die eine große Sammlung seltener Regionalbeschreibungen besitzt, und mit finanzieller Unterstützung der Max-Planck-Gesellschaft und der Chiang Ching-kuo Foundation for International Scholarly Exchange haben wir über 400 Titel seltener Regionalbeschreibungen über einen Zeitraum von zwei Jahren handverlesen, digitalisiert und frei zugänglich gemacht. Diese hochwertige Sammlung ermöglichte es unseren eigenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die ihnen zugänglichen kommerziellen Quellen zu ergänzen und machte es uns möglich, LoGaRT zusammen mit diesen Open-Access-Regionalbeschreibungen der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Wechselseitiges Feedback zwischen technischer Entwicklung und Geschichtsforschung
Als umfangreiche Textgattung, die einen Zeitraum von neun Jahrhunderten umspannt, dienten die Regionalbeschreibungen als Grundlage für historische Forschungen zu unterschiedlichsten Themen, wie z. B. literarischen Landschaften, Rezeption und Rekonstruktion regionaler Vielfalt sowie Entwicklung einer einheitlichen Terminologie für Produkte und Materialien in China. Da die Regionalbeschreibungen im Laufe der Jahrhunderte kopiert, überarbeitet und gesammelt wurden, stellten sie in schriftlicher Form dar, wie sich eine Region jeweils sozial, politisch und materiell zusammensetzte: Landschaft und Geschichte, Flora, Fauna, regionale Steuern und Produkte, Tempel und Schulen, Beamte und Berühmtheiten, regionale Feste und Bräuche, Wetteraufzeichnungen und Katastrophen wurden darin dokumentiert. Da die technischen Möglichkeiten der LoGaRT-Forschungstools mit der Zeit immer besser wurden, zog die Arbeitsgruppe dann auch Forschende an, deren individuelle Forschungsinteressen kollektiv die vielfältigen Themen reflektieren, die in den Regionalbeschreibungen dokumentiert sind und deren Forschungserfordernisse im Feedback wiederum zu iterativen technischen Verbesserungen und neuen, unerwarteten Funktionen führen.
Die LoGaRT-Forschungstools werden von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor allem auf drei Arten genutzt. Erstens nutzen viele die Volltextsuche, um mit Schlüsselbegriffen das historische Vorkommen oder Fehlen bestimmter Objekte oder Phänomene zu erkennen. Jeffrey Snyder-Reinke beispielsweise forschte in den Regionalbeschreibungen nach Kinderbestattungen und Kolumbarien, um Belege für Veränderungen in der gesellschaftlichen Einstellung zur Kindersterblichkeit im historischen China zu finden. Zweitens nutzen die Forschenden die Abschnittssuchfunktion der LoGaRT-Tools, um einen thematischen Abschnitt über mehrere Regionalbeschreibungen hinweg zu isolieren und damit Informationen zu einem bestimmten Thema über geografische Regionen und/oder Zeiträume hinweg zu extrahieren. In einigen Fällen war das Vorkommen bzw. Fehlen bestimmter thematischer Abschnitte in bestimmten Regionalbeschreibungen auch ein Hinweis auf größere Muster oder historische Veränderungen: Ian Matthew Miller zum Beispiel befasst sich in seiner Forschung mit den langfristigen Wechselwirkungen zwischen sozialen und ökologischen Veränderungen, nutzte Informationen in den forstwirtschaftlichen Abschnitten, um die Entwicklung von Verwaltungsstrukturen in der Holzindustrie und der dortigen Besteuerung aufzuzeigen. Drittens nutzen die Forschenden die Extraktionsschnittstelle von LoGaRT für die Auszeichnung von Texten aus mehreren Regionalbeschreibungen sowie zur Kollation und Kompilation eigenständiger Datensätze, die dann als kuratierte „digitale Konkordanz“ wiederverwendet werden und für weitere Untersuchungen dienen können. Joseph Dennis zum Beispiel konzentriert sich in seiner Forschung auf Druckkultur, Recht und Gesellschaft in der chinesischen Geschichte und hat alle Informationen zu Buchbeständen in Schulbibliotheken getaggt, um eine Konkordanz zu erstellen, die die Verbreitung von Büchern und Wissen in formalen Lernräumen kartiert.
Forschungszusammenarbeit mithilfe von LoGaRT
Um aktiv Umgebungen zu fördern, in denen die Geschichtsforschung und die Entwicklung von digitalen Tools Seite an Seite arbeiten und sich gegenseitig in ihrer Arbeit bereichern können, besteht eine zentrale Strategie dieser Arbeitsgruppe auch darin, Intensiv-Workshops zu bestimmten Themen anzubieten. Die bildbasierten Funktionen von LoGaRT wurden zum Beispiel nach dem wissenschaftlichen Feedback aus einer Reihe von Workshops über Visuelles Material in Regionalbeschreibungen entwickelt. Solche Fortschritte in Technik und Forschung verweisen auf das Potenzial der digitalen Geisteswissenschaften, innovative Forschungsergebnisse zu erzielen, die für alle beteiligten Disziplinen von Vorteil sind. Durch die Weiterentwicklung der LoGaRT-Tools wollen wir diese Praxis in der Disziplin der Wissenschafts-, Technologie- und Medizingeschichte fördern und Historikerinnen und Historikern weltweit primäre Ressourcen zur Verfügung stellen.
Über die chinesischen Regionalbeschreibungen hinaus betrachtet, machen die LoGaRT-Tools deutlich, wie die digitalen Geisteswissenschaften die Geschichtsforschung sowohl grundlegend als auch methodisch verändern könnten. Die Analysefunktionen der Tools ermutigen die Forschenden, ihre genaue Lektüre der gedruckten oder digitalen Primärquellen durch eine distanziertere und umfassendere Perspektive zu ergänzen, die sich auf gattungsspezifische Strukturen und historische Kontexte konzentriert. Aus dieser Kombination entsteht ein Forschungsablauf für die digitalen Geisteswissenschaften, der sich besser generalisieren lässt, insbesondere die Anwendung digitaler Methoden für einzelne Textgattungen. So erweitern wir beispielsweise jetzt die digitale Forschungsmethodik und die Entwicklungsprozesse, die hinter den LoGaRT-Forschungstools stehen, auf eine weitere strukturierte Textgattung der chinesischen Geschichte: die Enzyklopädien für den täglichen Gebrauch (riyong leishu, 日用類書). Darüber hinaus verwenden wir die Erkenntnisse aus der Entwicklung von LoGaRT, das ein eigenständiges und spezialisiertes Tool für eine bestimmte Textgattung war, für breiter aufgestellte digitale Infrastrukturen, die es den Forschenden ermöglichen, Texte (wie z. B. chinesische Regionalbeschreibungen) in beliebigen Tools ihrer Wahl wiederzuverwenden. Durch die schrittweise Entkoppelung einzelner Text-Tool-Kombinationen und die Förderung der Interoperabilität zwischen Texten und Tools wollen wir sicherstellen, dass die Produkte der digitalen Forschung auch nach dem Ende ihrer aktiven Entwicklung in den digitalen Geisteswissenschaften von Nutzen sein können.