Forschungsthemen

Abb. 1: Blick auf Vielfalt Serie 1, Zeichnung, Perforation, Detail einer 23-teiligen Arbeit, Fotografie von Bernd Hiepe.

Nr 31
Blick auf Vielfalt
Die Max-Planck-Forschungsgruppe Eine Wissensgeschichte der menschlichen Vielfalt im 20. Jahrhundert, geleitet von Veronika Lipphardt, hat Katrin von Lehmann als eine Artist-in-Residence eingeladen, um über die Rolle von Visualisierungen in der Erforschung menschlicher Vielfalt nachzudenken.

Die Berliner Künstlerin Katrin von Lehmann war 2012 Gast der Max-Planck-Forschungsgruppe Eine Wissensgeschichte der menschlichen Vielfalt im 20. Jahrhundert. Der Wunsch, mit einer Künstlerin zusammenzuarbeiten, entstand bei der Sichtung von Visualisierungen menschlicher Vielfalt im späten 20. Jahrhundert. Die Forschungsgruppe hat sich seit ihrem Bestehen mit diesen Darstellungen wissenschaftlich auseinandergesetzt: Zum einen in der Kooperation mit Marianne Sommer, die in einer Konferenz zu Menschheits-Visualisierungen in den Lebenswissenschaften im April 2013 in Luzern resultierte.

Blick auf Vielfalt, Serie 2, installation, photograph by Bernd Hiepe.

Abb. 2: Blick auf Vielfalt, Serie 2, Installation, Fotografie von Bernd Hiepe.

Zum anderen baute die Gruppe eine Datenbank solcher Visualisierungen auf, die mittlerweile mehr als 500 Abbildungen enthält: Stammbäume, Portraittafeln, Tabellen, Landkarten, Diagramme und zahlreiche Mischformen der Visualisierung. Die Datenbank soll Historikerinnen und Historikern die Möglichkeit geben, Projekte zu entwickeln, die zum Beispiel der Geschichte eines bestimmten Visualisierungstyps nachgehen; oder die zeigen, wie Bilder über Jahrzehnte von Lehrbuch zu Lehrbuch nur leicht oder gar nicht verändert wiedergegeben werden.

Der Wahrheitsanspruch dieser Bilder läuft, trotz antirassistischer Lippenbekenntnisse in den Begleittexten, meist auf den Satz „Es gibt verschiedene Menschenrassen“ hinaus: offenbar gilt dies den Autoren jener Texte als gesichertes Wissen. Der anhaltende Gebrauch solcher Bilder in wissensvermittelnden Medien ist höchst problematisch, denn er reduziert einen enorm komplexen Sachverhalt – menschliche Vielfalt – auf ein scheinbar eingängiges Wissen über „Menschenrassen“. Das Betrachten der Bilder vermag daher eher deterministische Auffassungen noch zu verstärken, anstatt das Problembewusstsein zu schärfen. Zusammen mit den ästhetischen Visualisierungstraditionen dieser Bilder weckte dies bei uns den Wunsch nach einer nicht-deterministischen Darstellung menschlicher Vielfalt, die deren Komplexität, Unabgeschlossenheit und Dynamik und damit der Unmöglichkeit ihrer Darstellung Ausdruck verleiht. Dies war eines der Themen in vielen Gesprächen mit Katrin von Lehmann, die dann ihren eigenen Zugang zu der Thematik „menschliche Vielfalt“ entwickelte: Ausgehend von der einfachen Grundidee, eine Buntstiftzeichnung zu unterst und darüber ein gelochtes Papier, hat sie den Blick als solchen thematisiert. Von der Buntstiftzeichnung ist soviel zu sehen, wie die Löcher des darüberliegenden Papiers es ermöglichen. Der Rest der Zeichnung ist verdeckt, das heißt existent, aber nicht sichtbar. Der gerichtete Blick fokussiert etwas und gleichzeitig blendet er etwas aus.

Blick auf Vielfalt, Serie 3, photograph, perforation, photograph by Hartmut Kern.

Abb. 3: Blick auf Vielfalt, Serie 3, Foto, Perforation, Fotografie von Hartmut Kern.

Für Katrin von Lehmann war dies nicht die erste Begegnung mit einem wissenschaftlichen Thema. 2009 setzte sie sich mit der sogenannten „Augenbeobachtung“ von Meteorologen auseinander, die darin besteht, die Wolken am Himmel zu studieren und deren Form in lateinische Begriffe übersetzt in einem Tagebuch zu notieren. Katrin von Lehmann hat solche Wolkentagebücher für ihren Werkkomplex Augenbeobachtungen verwendet. Als Gast der Forschungsgruppe am MPIWG entstanden jetzt vier Werkgruppen: Die Serien Blick auf Vielfalt 1-3, welche die Praxen der Forschung zur menschlichen Vielfalt wie auch der wissenschaftlichen Arbeit allgemein thematisieren, sowie der World Citizen 1735-1990. Letzteres besteht aus einer achtschichtigen großformatigen Fotoflechtung und basiert auf 20 ausgewählten Abbildungen aus der Datenbank Visualisations of Human Diversity.

World Citizen 1735-1990, photographic weaving, photograph by Bernd Hiepe.

Abb. 4: World Citizen 1735-1990, Fotoflechtung, Fotografie von Bernd Hiepe.

Katrin von Lehmanns Arbeit ist Übersetzungsarbeit: Es geht darum, einen Prozess, der über eine bestimmte zeitliche Dauer abläuft, in ein Bild zu übertragen. Das Wesentliche des Prozesses wird dabei nicht in einer fotografischen Momentaufnahme, auch nicht in bewegten Bildern eines Filmes, sondern in einem Bild wie in einem Substrat veranschaulicht, als ob alle Einzelbilder eines Films übereinandergelegt würden. Während bei der ersten Übersetzung lebendige Prozesse in Daten, Dokumente oder in die Erinnerung übertragen und gespeichert werden, entwickelt die zweite Übersetzung, die künstlerische Arbeit, ausgehend von den Daten, Dokumenten oder der Erinnerung ein künstlerisches Äquivalent, das sich jedoch in dem Moment der Übersetzung wandelt und somit nicht mehr rücklesbar ist. Lehmanns Arbeiten begehen also – meist in strengen Handlungskonzepten organisiert – einen Abstraktionsprozess, der im Moment der Zerstörung etwas Neues hervorhebt – sei es als eine Verschiebung, eine Neuentwicklung oder ein Perspektivwechsel.

Blick auf Vielfalt, Serie 3, photograph, perforation, detail, photograph by Bernd Hiepe.

Abb. 5: Blick auf Vielfalt, Serie 3, Foto, Perforation, Detail, Fotografie von Bernd Hiepe.