Forschungsthemen

Abb. 1: Seit den 1970er Jahren sind Studien mit Peilsendern an Walen und anderen wildlebenden Tieren Themen ethischer Diskussionen und des Umweltschutzes. Fotografie von Brendon Southall. U.S. National Oceanic and Atmospheric Administration.

Nr 28
Überwachte Wissenschaft
Etienne Bension untersucht in seinem neuen Projekt, wie der Schutz bedrohter Arten die Feldbiologie des 20. Jahrhunderts veränderte.

Als im 20. Jahrhundert eine Bewegung zum Schutz gefährdeter Arten vor dem Aussterben entstand, haben Wissenschaftler eine zentrale Rolle gespielt. Umgekehrt hat diese Bewegung dazu geführt, dass wissenschaftliche Verfahren sich änderten, Wissenschaftler sich neu orientierten und die Forschung sich auf neue Ziele ausrichtete. Unter anderem wurden umfangreiche Datenbanken von Arten angelegt, die sowohl den Stand des biologischen Wissens widerspiegelten als auch den zukünftigen Verlauf biologischer Forschung und deren rechtliche Beschränkungen mitbestimmten. Vom Aussterben bedrohte Arten wurden gleichzeitig Objekte intensiven epistemologischen Interesses und besonderer ethischer Verantwortung. Diese Verbindung von Ethik und Epistemologie, von sozialen Bewegungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen ist Gegenstand der laufenden Forschung im Rahmen des Projektes „Sciences of the Archive“ in der Abteilung II (Ideale und Praktiken der Rationalität) des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte.

1986 schlug ein junger Biologe an der Universität Cambridge eine neue Methode vor, mit deren Hilfe er die Genetik der Mörderwal-Population im Pazifik vor der Nordwestküste der Vereinigten Staaten erforschen wollte, nämlich mit einer Armbrust kleine Pfeile auf frei schwimmende Orcas abzufeuern, um damit Gewebeproben zu sammeln. Obwohl der Wissenschaftler bei den amerikanischen Behörden ordnungsgemäß eine Forschungsgenehmigung beantragte und, wie vom Gesetz gefordert, auch bekam, wurde die Studie nie durchgeführt. Stattdessen wurden der Wissenschaftler und die Behörde, die die Genehmigung ausgestellt hatte, von Greenpeace in ein Gerichtsverfahren verwickelt, in dem es darum ging, ob die Risiken der Verwendung von Pfeilen deren Nutzen überwögen. Angesichts eines gerichtlichen Verbots verwarf der Wissenschaftler seine Pläne. Biopsiepfeile wurden später für die Erforschung der Orcas verwendet, aber sie blieben umstritten, insbesondere in Gebieten mit sesshaften Orcapopulationen, starken Umweltbewegungen und einem wirtschaftlich bedeutsamen Ökotourismus wie der Pazifikküste im Nordwesten der Vereinigten Staaten. Die meisten Untersuchungen von Mörderwalen bedienten sich weiterhin weniger invasiver Techniken.

Dieser Fall ist ein Beispiel für ein viel weiter verbreitetes Phänomen in der Geschichte der Biodiversitätsforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Neuausrichtung der Verfahren von Wissenproduktion aus ethischen und ökologischen Gründen. Wir wissen nur sehr wenig darüber, wie und warum solche Erwägungen Ende des 20. Jahrhunderts Eingang in die Arbeit von Feldbiologen fanden und warum Fälle wie der oben berichtete – in denen Methoden, die innerhalb der scientific community als legitim angesehen wurden, von Umwelt- oder Tierschutzaktivisten abgelehnt oder verändert wurden – immer häufiger auftraten.

Dem Forschungsprojekt liegt der Gedanke zugrunde, dass diese ethisch-epistemologische Verflechtung sowohl das, was wir wissen, als auch das, was wir als eine ethisch korrekte Beziehung zu anderen Lebensformen ansehen, geformt hat. Auf der Grundlage bestehender Studien zu Forschungsverfahren und materieller Kultur im Labor und im Feld beleuchtet es die immer zentralere Rolle von ethischen Erwägungen, öffentlicher Überwachung sowie Gesetzen, Regulierungen und Standards in wissenschaftlichen Verfahren des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Dies geschieht zum einen mittels archivbasierter Studien darüber, wie sich Arbeit und Denkweise von einzelnen Wissenschaftlern und von Organisationen mit der Zeit in Reaktion auf das neue Interesse am Fortbestand der Arten und am Tierschutz entwickelten, zum anderen durch die eingehende Untersuchung des Regulierungsprozesses, der die sich verändernden Moralvorstellungen und Erwartungen reflektiert.

Das Projekt verfolgt in mehreren Strängen verschiedene Aspekte dieser ethisch-epistemologischen Verflechtung. Einer widmet sich der Frage, auf welche Weise sich die Auffassungen über die Verantwortung von Wissenschaftlern für den Schutz gefährdeter Arten im Laufe der Zeit geändert haben und wie damit sowohl den Wissenschaftlern als auch der Öffentlichkeit und den Regulierungsbehörden neue Rollen zugewiesen wurden.

In den Vereinigten Staaten lässt sich die Sorge um den Fortbestand gefährdeter Arten schon um die Wende zum 20. Jahrhundert nachweisen, zusammen mit der Befürchtung auf Seiten der Wissenschaftler, diese Sorge – die sich in Fanggrenzen, Wildreservaten und anderen Beschränkungen in der Tötung bestimmter Arten äußerte – könnte ihre Fähigkeit, neues Wissen zu produzieren, beeinträchtigen. Doch einen entscheidenden Wendepunkt brachten erst die 1960er und 1970er Jahre, als eine ganze Reihe neuer Umweltschutzgesetze verabschiedet und ältere Gesetze verschärft oder konsequenter durchgesetzt wurden.

Biologen haben bei der Begründung und Formulierung dieser neuen Gesetze eine entscheidende Rolle gespielt, aber sie konnten sie nicht vollständig beeinflussen und mussten häufig feststellen, dass Regeln, die auf dem Papier akzeptabel aussahen, in der Praxis zur Belastung wurden. Dieser Strang des Projekts geht sowohl ihren Bemühungen wie denen von Umwelt- und Tierschutzaktivisten nach, das Regulierungssystem in ihrem Sinne umzugestalten, wobei jede Gruppe für sich in Anspruch nahm, im besten Interesse für Tiere und Umwelt zu handeln.

Naturschutzbiologen waren während dieser Zeit wohl kaum die Einzigen, die aufgrund der Risiken ihrer Untersuchungsverfahren und der dadurch verursachten Schäden zum Ziel verstärkter Überwachung wurden, und sie waren auch nicht die Einzigen, die gegen die daraus resultierenden formalen und bürokratischen Regulierungssysteme und gegen die Interessengruppen und Bürger stritten, die sie bekämpften. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die staatliche Unterstützung der Wissenschaft drastisch anstieg, wurde die Forschung in zahlreichen Disziplinen neuen Formen von Regulierungsgewalt unterworfen. Diese Entwicklung, die so unterschiedliche Felder wie Physik und Psychologie betraf, war so umfassend, dass sie nicht mit Schwierigkeiten, die innerhalb einer einzelnen Disziplin auftauchen, oder mit den Bedenken einer bestimmten sozialen Bewegung gleichgesetzt werden kann.

Biopsy darting is now a commonly used technique, but it remains controversial, particularly when used to study whale populations that are closely observed by tourists and local residents. Photograph by Wayne Hoggard. Courtesy of the U.S. National Oceanic and Atmospheric Administration.

Abb. 2: Die Gewebeentnahme mit Pfeilen ist mittlerweile eine übliche Methode, bleibt aber insbesonderein solchen Gegenden umstritten, in denen die Walpopulationen auch von Touristen und der Ortsbevölkerung beobachtet werden. Fotografie von Wayne Hoggard. U.S. National Oceanic and Atmospheric Administration.

Ein zweiter Projektstrang versucht deshalb das Aufkommen regulatorischer Herangehensweisen im Umgang mit riskanten wissenschaftlichen Verfahren während dieser Zeitspanne in einer ganzen Reihe von Disziplinen zu erklären und festzustellen, was gleich blieb und was sich in den Disziplinen jeweils änderte. Im März 2012 fand am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte der Workshop Regulating Research statt, der Experten im Bereich der Geschichte formaler Regulierung wissenschaftlicher Verfahren in den Vereinigten Staaten und Europa zusammenbrachte. Diskutiert wurden sowohl empirische Studien aus so unterschiedlichen Bereichen wie Anthropologie, Archäologie, Biomedizin (des Menschen und von Tieren), Chemie und Feldbiologie als auch allgemeinere theoretische Beiträge. In der laufenden Forschung geht es um die Frage, auf welche spezifische Weise Regulierungsregime nicht nur mit den Risiken zu tun hatten, die von der Wissenschaft identifiziert wurden, sondern auch mit solchen, die von ihr unmittelbar produziert wurden.

Ein Ziel dieses Projektes ist es, das Aufkommen und die Entwicklung eines Regulierungsregimes für Wissenschaft zu erklären, ein weiteres, Dokumente der Regulierung selber als neue historische Quellen zu verwenden. Die Regulierungsdokumente umfassen sowohl neue Regulierungserlasse als auch Entscheidungen über einzelne Fälle und bieten einen einzigartigen Einblick in wechselnde Forschungsprioritäten und ethische Erwägungen. Eine große Anzahl von Dokumenten dieser Art gibt es in den Vereinigten Staaten, wo Transparenz einen hohen Stellenwert besitzt und zusammen mit der Skepsis gegenüber der Zentralregierung zur Veröffentlichung und Verbreitung von Dokumenten geführt hat, die in vielen anderen Staaten Interna des Regulierungsprozesses bleiben.

Ein dritter Strang des Projekts verwendet daher Genehmigungsanträge und andere Unterlagen als Informationsquellen über Verfahrensänderungen, die Ausrichtung der Forschung und soziale Netzwerke in der Naturschutzbiologie. Die Unterlagen aus jüngster Zeit sind elektronisch verfügbar und können automatisch ausgewertet und auf Muster bei der geografischen Verteilung von Forschern und Standorten, auf die am meisten beachteten Arten und Taxa sowie die vorgeschlagenen Forschungsmethoden hin befragt werden. Zusammen mit den oben beschriebenen qualitativen historischen Untersuchungen erlauben diese Daten quantitative Messungen der Veränderungen, die die Naturschutzbiologie im Laufe der Zeit vollzogen hat.

Insgesamt beschäftigt sich das Projekt mit den verschiedenen Wegen, auf denen soziale Werte und Normen Einfluss auf Verfahren der Wissensproduktion nehmen. Es versucht zu zeigen, wie ethische Erwägungen in Gestalt formaler Regelsysteme und Regulierungen das geformt haben, was gewusst werden kann, und insbesondere wie Umwelt- und Tierschutzbelange die Arbeit von Feldbiologen im letzten halben Jahrhundert neu ausgerichtet haben. Unter anderem hat das Projekt gezeigt, wie Veränderungen innerhalb der Naturschutzbiologie Teil einer viel breiteren regulatorischen Wendung in der Kontrolle von Wissenschaft waren und wie die Zunahme von Regulierung dazu beigetragen hat, unter Feldbiologen ein neues politisches Bewusstsein zu schaffen. Die laufende Arbeit konzentriert sich darauf, die epistemologischen Auswirkungen dieser Verschiebungen zu bestimmen, das heißt festzustellen, wie das Ziel der Bewahrung des Artenreichtums das, was wir über Lebewesen und Ökosysteme wissen, geformt hat, einschließlich der komplexen und politisch wichtigen Datenbanken gefährdeter Arten, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts geführt werden.

Dieses Projekt wird im Rahmen des von Lorraine Daston geleiteten Projekts „Sciences of the Archive“ in der Abteilung II des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte durchgeführt und ist eng mit der Arbeitsgruppe Endangerment and Its Consequences verbunden, die Fernando Vidal (Autonome Universität Barcelona) leitet. Die Software zur Sammlung und Kartografierung von Informationen aus Regulierungsdokumenten wurde in Zusammenarbeit mit Dirk Wintergrün und dem IT-Team am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte entwickelt.