Forschungsthemen

Abb. 1: Brief von Dr. Frater an den britischen Resident Commissioner. „Vital Statistics, Land etc.“ NHBS 17/I/6. Western Pacific Archives, Bibliothek der University of Auckland.

Nr 25
Bevölkerungsgröße und Geschlechterproportion
Die Wissenschaftshistorikerin Alexandra Widmer untersucht die Beziehung von Geschlechterproportion, Humandiversität und Kolonialpolitik auf den Neuen Hebriden im Südpazifik in den 1920er Jahren.

Was lässt sich aus der Geschlechterverteilung – dem zahlenmäßigen Verhältnis von Männern zu Frauen – in einer Bevölkerungsgruppe ablesen? Diese Frage hat Kolonialverwalter ebenso interessiert wie Wissenschaftler, die verstehen wollten, welche Rolle die Geschlechterproportion für die Gesundheit der Bevölkerung und ihre Fortpflanzungsfähigkeit spielt. In der Zwischenkriegszeit fielen Untersuchungen zu Wachstum und Rückgang von Bevölkerungen in die Zuständigkeit verschiedenster Experten – physischer Anthropologen, Biologen, Agrarwissenschaftlern, Aktivisten im Bereich der Geburtenkontrolle –, während die Demographie zu dieser Zeit erst allmählich den Status einer eigenen Disziplin erlangte. Auf den bahnbrechenden Konferenzen der International Union for the Scientific Investigation of Population Problems (Internationale Vereinigung zur wissenschaftlichen Erforschung von Bevölkerungsproblemen) trafen sich Bevölkerungsexperten, um über alle denkbaren Aspekte des Bevölkerungswachstums zu diskutieren. Obwohl das Gespenst einer wachsenden Globalbevölkerung die Diskussionen beherrschte, wurden auch sinkende Bevölkerungszahlen erörtert. Besonders die unausgeglichenen Geschlechtsverteilungen bei stark schrumpfenden indigenen Bevölkerungsgruppen der südpazifischen Inseln trafen auf großes Interesse, weil man sich von ihrer Erforschung sowohl Aufschluss über wissenschaftliche Schlüsselfragen erhoffte als auch über Probleme der Kolonialverwaltungen: Welche Auswirkungen hatten „Rassenmischung“ oder „kultureller Kontakt“ auf das Potential einer Bevölkerung? Zur gleichen Zeit sahen sich die britischen Behörden, die den Inselarchipel der Neuen Hebriden, heute Vanuatu, zusammen mit den Franzosen verwalteten, damit konfrontiert, dass protestantische Missionare ebenso wie Wissenschaftler von ihnen forderten, dem verheerenden, durch Epidemien und niedrige Fertilitätsraten verursachten Bevölkerungsrückgang etwas entgegenzusetzen.

Sex-ratios and population growth. John R. Baker, “Depopulation in Espiritu Santo, New Hebrides,” in: The Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 58 (1928), p. 293.

Abb. 2: Geschlechtsverteilung und Bevölkerungswachstum. John R. Baker, “Depopulation in Espiritu Santo, New Hebrides,” in: The Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 58 (1928), S. 293.

Die Ergebnisse der ersten – eher rudimentären – Volkszählungen alarmierten Forscher und Missionare gleichermaßen, denn sie deuteten auf eine unausgewogene Geschlechtsverteilung hin. Der Oxforder Biologe John Randall Baker errechnete während seiner Expedition im Jahre 1925 für die isolierte Bevölkerung der Insel Espiritu Santo ein Verhältnis von 159 Männern zu 100 Frauen. Baker gestand zu, dass eine Ursache in der gezielten Tötung von neugeborenen Mädchen liegen könne; größeres Gewicht legte er jedoch auf die härteren Lebensbedingungen von Frauen im Vergleich zu Männern sowie auf die Geschlechtsverteilung bei der Geburt. Ein Missionar der Presbyterianer, Dr. Maurice Frater, hatte einige Jahre zuvor auf der Insel Ambrym eine Volkszählung durchgeführt und dem Britischen Resident Commissioner, Merton King, über seine Funde berichtet. Der „beunruhigendste Befund dieser Volkszählung“, erklärte Dr. Frater, sei die Überzahl der Männer gegenüber den Frauen. Seiner Einschätzung nach wurden sowohl das Ungleichgewicht als auch der damit zusammenhängende Bevölkerungsrückgang durch zwei kulturelle Faktoren verursacht: „1. Frühe unreife Heirat auf weiblicher Seite. 2. Das System des Frauenkaufs ist zur Zeit nicht an die Vermehrung der Rasse angepasst [...] Der Preis einer Frau auf Ambrym liegt bei 10-15 Schweinen“. Außerdem werde „das Übel weiter verschärft durch alte Männer, die eine Vielzahl von Frauen, darunter viele junge Frauen, haben, die mit Männern ihres Alters ihren Beitrag zum Fortbestand der Rasse leisten würden“. Sozialanthropologen sollten später nachweisen, dass der Besitz einer großen Anzahl an Schweinen signalisierte, dass man sich erfolgreich an Rangstufen-Zeremonien beteiligen konnte, und man zudem über die Fähigkeit verfügte, genügend soziale Beziehungen zu entwickeln, um so viele Schweine überhaupt aufziehen zu können. Daher gelang es Männern erst in mittlerem oder hohem Alter, über eine derart große Anzahl von Schweinen zu verfügen. Der Britische Resident Commissioner solle das Problem bereinigen, schlug Dr. Frater vor, und empfahl nachdrücklich, dass die Häuptlinge die Heirat junger Mädchen verbieten sollten.

In den Brautpreis und die Heiratspraktiken regulierend einzugreifen, war den Missionaren nicht nur deshalb ein Anliegen, weil sie dem Bevölkerungsschwund Einhalt gebieten wollten. Die Presbyterianer sahen im Brautpreis zugleich eine fehlgeleitete Verwendung von Ressourcen, die Frauen entwürdigte; er gehörte für sie zum System der Aufrechterhaltung von Allianzen zwischen expansiven sozialen Gruppen (die von den Missionaren als Clans bezeichnet wurden), im Gegensatz zu den inneren Verwandtschaftsbeziehungen der Kernfamilie, die sie stärken und durchsetzen wollten.

Die britische Kolonialregierung wiederum war hinsichtlich ihrer Regierungsgewalt eher daran interessiert, die lokalen (im Archipel unterschiedlichen) Heiratsbräuche zu verstehen, um eine administrative Lösung für die Registrierung verschiedenster Heiratspraktiken zu finden, und darin traf sie sich mit der Logik der Missionare. Da ihre Durchsetzungsgewalt beschränkt war, benötigten die Briten jedoch eine Form der Intervention, die an die unterschiedlichen „einheimischen Bräuche“ hinreichend angepasst war. Den Brautpreis zu regulieren – statt ihn abzuschaffen – schien eine vernünftige Vorgehensweise zu sein. Ihrem kolonialen Denken zufolge würde so das heiratsfähige Alter der Männer gesenkt werden, die Fruchtbarkeit der Ehen damit zunehmen und die schlecht angepassten kulturellen Praktiken, die die Frauen benachteiligten, korrigiert werden. In dieser Logik wurde die Kernfamilie zum natürlichen Ort der Fortpflanzung; und zudem unterstützte sie die Verbreitung diskriminierender Darstellungen von melanesischen Frauen als Opfer aggressiver melanesischer Männer.

Cover page of the file “The Price of Brides.” NHBS 17/I/6. Western Pacific Archives, University of Auckland Library.

Abb. 3: Titelblatt der Akte „The Price of Brides“. NHBS 17/I/6. Western Pacific Archives, University of Auckland Library.

Die Regulierung des Brautpreises war nur sporadisch erfolgreich. Bis in die 1960er Jahre hinein begriffen die Verwalter, die John Randall Bakers Untersuchung über die Bedeutung einer ausgeglichenen Geschlechterproportion gelesen hatten, dieses Zahlenverhältnis als einen Hauptindikator für die Gesundheit der Bevölkerung.

John Bakers Methoden, die auch den Vergleich von Geschlechterproportionen in christlichen und „heidnischen“ Dörfern beinhalteten, erfuhren auch anderswo Verbreitung. So konnten sich seine epistemischen Annahmen über die Bedeutung kultureller und biologischer Isolation beziehungsweise kulturellen und biologischen Kontakts tief im Bevölkerungsdiskurs jener Zeit verankern. Schon zuvor, seit Darwins Publikationen, verstanden Biologen die Proportion der Geschlechter in einer Population als ein Phänomen, das durch natürliche Auslese in der Evolution erklärt werden könne. Dass bei florierenden Säugetier-Populationen (Menschen, Schweinen, Ratten, Mäusen und so weiter) im allgemeinen ein ausgeglichenes Geschlechtsverhältnis anzutreffen war, wurde als Hinweis darauf gedeutet, dass dies für das Überleben einer Population vorteilhaft war, obwohl man gleichzeitig einräumte, dass es einige (nichtmenschliche) Populationen gab, für die ein unausgeglichenes Verhältnis vorteilhaft zu sein schien. Während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurden Geschlechtsverteilungen herangezogen, um die Geschlechtsfestlegung bei der Zeugung, unterschiedliche Überlebensraten der Geschlechter während der Schwangerschaft, das Geschlechtsverhältnis bei Geburt, und die unterschiedlichen Überlebensraten der Geschlechter bis zum reproduktionsfähigen Alter zu verstehen. Wissenschaftliche Theorien zur Geschlechtsverteilung verknüpften zudem Aspekte der menschlichen Fortpflanzungsbiologie mit „rassischen“ Erklärungen der Variabilität von Populationen. Da immer mehr Volkszählungsdaten aus der ganzen Welt zur Verfügung standen, gab es Vergleichsmöglichkeiten, um die Auswirkungen von Umweltfaktoren, kulturellen und Erbfaktoren auf die Geschlechtsverteilung zu diskutieren. Veränderungen der Geschlechterproportion galten als Indikatoren oder mitwirkende Faktoren für die Zunahme oder Abnahme der „Rasse“; eine Zunahme des männlichen Anteils über das Gleichgewicht hinaus deutete auf einen bevorstehenden Bevölkerungsrückgang hin, ein ausgeglichenes Verhältnis oder ein Übergewicht der Frauen galt als Indikator für eine stabile oder wachsende Bevölkerung.

Alarmiert durch die verheerenden Verluste von Männern, und verblüfft angesichts der offenkundigen Zunahme männlicher Geburten während des Ersten Weltkriegs, beschäftigten sich britische Forscher nun auch mit der ungleichen Geschlechtsverteilung in Großbritannien. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Frage, wie Individuen und Bevölkerungen auf Stress in ihrer Lebenswelt reagierten. Julian Huxley, der die Überzahl männlicher Geburten während des Krieges zu erklären versuchte, wies die Theorie zurück, Stress wirke sich auf pränatale Bedingungen so aus, dass es zu Fehlgeburten der empfindlicheren männlichen Embryos komme; stattdessen mutmaßte er, dass durch Stress weibliche Embryos in männliche umgewandelt würden. Nachdem die Chromosomentheorie der Geschlechtsfestlegung in den 1920er Jahren schließlich akzeptiert worden war, ging man davon aus, dass die Erblichkeit des Geschlechtschromosoms bei 50 : 50 liege, und dass davon abweichende Verhältnisse durch Bedingungen nach der Zeugung erklärt werden müssten.

Welche Schlüsse konnten die britischen Bevölkerungsexperten und Kolonialverwalter aus den Geschlechtsverteilungen ziehen? Die Forscher, die an Bevölkerungsfragen interessiert waren, nahmen sie zum Anlass einer Diskussion über das Zusammenspiel zwischen kulturellen Praktiken und biologischem Anpassungsvermögen. Für britische Kolonialverwalter war die Geschlechtsverteilung vergleichsweise einfach zu berechnen, selbst auf der Grundlage rudimentärer Zensusdaten, weshalb die Geschlechtsverteilung im Werkzeugkasten des Kolonialverwalters ein äußerst nützliches Instrumentarium darstellte.

Wissenschaftler wie Kolonialverwalter hatten es mit der Fortpflanzung verschiedener Bevölkerungen zu tun. Konvergenzen zwischen wissenschaftlichen Fragestellungen und kolonialadministrativen Interessen bezüglich der Gesundheit unterschiedlicher menschlicher Gruppen stehen im Mittelpunkt des internationalen Workshops Colonial Subjects of Health and Difference: ‘Races’, Populations, Diversities, der vom 11.–13. Juni am MPIWG stattfand, organisiert von Alexandra Widmer und Veronika Lipphardt. Der Workshop war eine Veranstaltung der Forschungsgruppe Twentieth Century Histories of Knowledge About Human Variation.