Auf den ersten Blick scheinen die folgenden Dinge nichts miteinander zu tun zu haben: Ein Amur-Leopard, ein Paranussbaum, die 510 Fifth Avenue, der Karneval von Oruro in Bolivien, die Tofa-Sprache aus Irkutsk, ein blaubäuchiger Usambara-Frosch, eine Masoala madagascariensis, die Nasca-Linien und Geoglyphen in Peru, die Wiener Kaffeehaus-Kultur und die Ndai-Sprache in Kamerun. Gleichwohl gehören sie alle zusammen und nicht nur deswegen, weil man – wie in Jorge Luis Borges’ chinesischer Enzyklopädie – ganz willkürlich eine Kategorie bilden kann, die gerade diese Dinge umfasst. Alles was hier aufgeführt wurde – Pflanzen- und Tierarten, Orte und Gebäude, Sprachen, kulturelle Praktiken –, ist als gefährdet kategorisiert worden. Während solche Kategorisierungen oft umstritten sind, wird Gefährdung, der Begriff und das Phänomen, als mehr oder weniger selbstverständlich hingenommen. Eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte versucht, die Selbstverständlichkeit, mit der das Konzept der Gefährdung im aktuellen Diskurs genutzt wird, in Frage zu stellen; dazu ordnet sie dieses Konzept in begriffliche und historische Perspektiven ein und erkundet den eingebetteten, kulturell und historisch spezifischen Charakter des Imperativs, Natur und Kultur zu bewahren.
Die Internationale Union für die Bewahrung der Natur und natürlicher Ressourcen inventarisiert seit dem Jahre 1963 die vom Aussterben bedrohten Arten. In den letzten Jahrzehnten haben Stiftungen und internationale Organisationen es sich zur Aufgabe gemacht, verschiedene Formen des kulturellen Erbes – materielle, wie etwa Gebäude, und sogenannte „immaterielle,“ wie künstlerische Ausdrucksformen und traditionelle Wissenssysteme – zu identifizieren, deren Existenz bedroht ist. In all diesen Fällen ist der Vorgang, dass etwas als gefährdet qualifiziert wird, ein notwendiger Schritt in Richtung auf das Ziel, es zu beschützen und zu bewahren.
Der Begriff der Gefährdung steht im Zentrum eines Netzes von Begriffen, Werten und Praktiken, die sich mit von Ausrottung oder Zerstörung bedrohten Entitäten befassen, sowie mit Prozeduren, die darauf abzielen, Daten über sie zu sammeln, und die bedrohten Entitäten so weit wie möglich zu bewahren. Die Wahrnehmung von Gefährdung führt dazu, dass unterschiedliche Dokumentationssysteme, wie etwa Archive, Kataloge, Datenbanken und Atlanten, erstellt werden. Diesen verschiedenen Formen von Wissen ist der Wunsch nach Memorialisierung gemeinsam. Das Identifizieren und Katalogisieren gefährdeter Entitäten, oftmals motiviert durch einen Sinn für Bürgerpflicht und für die Dringlichkeit einer Aufgabe, umfasst die Bewertung des Ausmaßes der anstehenden Bedrohung und öffnet Wege für Erhaltungsstrategien. Aber Bewertung und Bewahrung gehen oft einher mit Interessens- und Interpretationskonflikten. So kämpft beispielsweise die Walfang-Politik mit dem Problem der wissenschaftlichen Ungewissheit über Populations-Schätzungen, die Auswirkungen der Umweltveränderungen, die maximalen nachhaltigen Fangquoten und die Überwachungsmöglichkeiten der Fänge. Auseinandersetzungen über solche Ungewissheiten spielen bei den Verhandlungen zwischen Wissenschaftlern, Naturschützern, traditionellen Walfängern und der Wal-Industrie eine wesentliche Rolle; und es sind diese Verhandlungen, von denen die Politik geprägt wird, und die auch umgekehrt einen prägenden Einfluss auf die Wissenschaft ausüben.
Die Arbeitsgruppe Gefährdung und ihre Folgen konzentriert sich auf Gefährdung – endangerment – wobei das Suffix den Vorgang bezeichnet, dass etwas in Gefahr gebracht wird. Sie untersucht, wie als signifikant erachtete Daten konstruiert werden, und sie erkundet die Art von Wissen, die von diesen Daten konstituiert wird, die epistemischen und institutionellen Strukturen, in denen es organisiert ist, die Affekte, von denen es durchdrungen ist, und die moralischen und epistemischen Werte, die es verkörpert. Wenn man etwas als „gefährdet“ wahrnimmt und etikettiert, hat das eine Reihe von Konsequenzen. Erstens ist Gefährdung in einer Art Rückkopplungsschlaufe mit Wertschätzung gekoppelt. Wir schützen Dinge, die wir wertschätzen; umgekehrt werden Dinge wertvoller, wenn sie bedroht scheinen, und besonders wertvoll werden sie, wenn sie das offizielle Etikett gefährdet erhalten haben und Maßnahmen getroffen wurden, um sie zu retten. So heißt es zu Beginn des US-Gesetzes über gefährdete Arten (United States Endangered Species Act), die zu schützenden Organismen hätten „ästhetischen, ökologischen, pädagogischen, historischen, erholungsbezogenen und wissenschaftlichen Wert für die Nation und ihr Volk.“ Manchmal wird darüber diskutiert, was genau diese Organismen so kostbar macht, aber durch die Bezeichnung gefährdet werden sie jedenfalls als wertvoll zertifiziert. Dieser Prozess hat Zusammenstöße erzeugt zwischen den (meist westlichen) Bewahrern, die Traditionen oder Biotope erhalten wollen, und den (meist nicht-westlichen) Völkern, die unmittelbar mit ihnen befasst sind, und die sie oft im Dienste einer verbesserten Lebensqualität ändern wollen. Rückt man die Bewahrung des Gegenwärtigen ins Zentrum, so unterstellt man, dass Arten stabile, wohldefinierte Entitäten sind, und dass Kulturen irgendwie außerhalb des Stroms der Geschichte existieren. Die Konflikte, die in solchen Zusammenhängen entstehen, sind im Kern Konflikte zwischen Bewahrung und Menschenrechten.
Zweitens setzt Gefährdung – ob vermutet oder bestätigt – eine Reihe von wissenschaftlichen und administrativen Verfahren in Gang, um die Existenz einer Bedrohung festzustellen, ihre Intensität zu messen und die gefährdete Entität zu schützen. Die epistemischen Auswirkungen, die diese Verfahren haben, betreffen nicht nur die Instrumente zur Dokumentation und Erhaltung, sondern auch die Gegenstände des Wissens selbst. Wie beispielsweise Jacob Gruber in seinem klassischen Artikel „Ethnographic Salvage and the Shaping of Anthropology“ (1970) gezeigt hat, wurden Ethnologen durch die Sorge um Verlust und Vernichtung dazu gebracht, die Unorganisiertheit sozialer Systeme zu betonen (statt den Gemeinschaftssinn), und ihr Augenmerk wurde auf entlegene Inseln gelenkt, von denen man annahm, dort würden kulturelle Muster bewahrt, die nirgendwo anders mehr gefunden werden könnten. Die Bemühungen um Bewahrung können auch einen verändernden Einfluss auf die gefährdeten Entitäten selbst haben, wenn beispielsweise die Sicht von Linguisten auf eine gefährdete Sprache integriert wird in die Art und Weise, wie deren Sprecher sie praktizieren.
In der Anthropologie wie anderswo hat die intellektuelle und moralische Sorge um Gefährdung und ihre Konsequenzen eine affektive Dimension, die in mindestens zwei Richtungen untersucht werden könnte. Die eine betrifft motivierende oder Energie freisetzende Affekte und die emotionalen Reaktionen, die von gefährdeten Entitäten ausgelöst werden. Die andere betrifft die ethischen Sensibilitäten, die bei Gefährdungsdiskursen und -praktiken im Spiel sind. In beiden Richtungen wäre es wichtig, die beteiligten Emotionen zu identifizieren und ihre Rolle für die Wahrnehmung von Gefährdung und für die Praktiken der Bewahrung zu beschreiben. Wesentlich wäre es auch, deren Wechselspiel mit Normen zu verstehen, sowie die Spannung zwischen Emotionen und Objektivitätsansprüche gefährdungsbezogener Projekte. Darüber hinaus muss man Longue-durée-Perspektiven eröffnen und Zusammenhänge herstellen zur jahrhundertealten Geschichte der moralischen Autorität der Natur. Beispielsweise haben Teile der Christenheit einen Prozess des „Grünwerdens“ erfahren, wobei einige Gruppen die menschliche „Treuhänderschaft“ und „Sorge für die Schöpfung“ betonen. Auffassungen der Natur, die sich selbst als säkular begreifen, nehmen einige dieser christlichen Themen auf; so schließen gewisse Interpretationen des Anthropozäns (der geologischen Ära, die durch den Einfluss der menschlichen Aktivität definiert ist) an mittelalterliche Vorstellungen über die Natur als Gottes Stellvertreter an – wobei sie vergessen, dass die Natur im selben Kontext so beschrieben wurde, dass sie die göttliche Ordnung auch stören konnte.
Eines der Hauptphänomene, die von der Arbeitsgruppe Gefährdung und ihre Folgen untersucht werden, ist das Verwischen der Grenzen zwischen „Natur“ und „Kultur“ und das Aufkommen von biokultureller Vielfalt sowohl als von innen heraus gefährdetes Phänomen wie auch als Ziel von wissenschaftlichen Projekten und Bewahrungsprojekten. Beispiele dafür sind Legion, wir wollen hier nur einen Experten der Vereinten Nationen zitieren, welcher der Ansicht ist, die Vorratshaltung von Saatgut allein sei nicht ausreichend, um im Falle künftiger Notlagen die Nahrungsmittelproduktion zu sichern. „Ebenso bewahrenswert“, sagte er, „ist die mühsam erworbene Weisheit der Bauern in aller Welt, die über Generationen die Saaten und das Zuchtvieh geschaffen haben, die uns jetzt so teuer sind. Der vielleicht kostbarste und gefährdetste Rohstoff ist das Wissen, das im Kopf der Bauern gespeichert ist.“ Eine solche Auffassung der wechselseitigen Abhängigkeit von natürlichem und kulturellem Erbe hat selbst eine Geschichte. Letztendlich kann eine Untersuchung von Gefährdung und ihren Konsequenzen uns helfen, der Tatsache ins Auge zu sehen, wie der Anthropologe Philippe Descola es formuliert hat, dass es „keine absoluten, wissenschaftlich fundierten Kriterien gibt, anhand derer sich in der Frage der Bewahrung natürlicher und kultureller Güter universal anerkannte Werte rechtfertigen lassen.“
Die Arbeitsgruppe Gefährdung und ihre Folgen ist Teil des Projekts „Sciences of the Archive“ in Abteilung II am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Im Oktober 2011 organisierte sie einen internationalen Workshop; ein Sammelband zu dieser Tagung ist in Vorbereitung.