Forschungsthemen

Abb. 1: Screenshot vom Webinterface map-Places-In-Time (mapPIT), © Google - Kartendaten © Mapabc. MapPIT kartografiert Daten, die in Tabellenform vorliegen. Verschiedene Datensätze können miteinander kombiniert und abgeglichen werden. Die roten Punkte auf der Karte zeigen die Orte, welchen die Yuan-Herrscher einen Stadt-ähnlichen unabhängigen Status zuerkannten. Schwarze Punkte zeigen die Präfektursitze des Han-chinesischen Verwaltungssystems.

Nr 21
Wissenslandschaften
Dagmar Schäfer und Falk-Juri Knaufft berichten, wie Design und Raumwahrnehmung sich historisch verändert haben und welchen Einfluss dies auf wissenschaftliche und technische Vorstellungen hatte. Hierfür haben sie neue Methoden für die Organisation und Analyse historischer Daten entwickelt, insbesondere das geographische Analyse-Instrument map-Plances-in-Time (mapPIT).

Wo entsteht Wissen? Welches Wissen bildet wissenschaftliche und technische Zusammenhänge ab? Das Forschungsprojekt „Konzepte und Modalitäten: Praktischer Wissens-transfer in China“ untersucht historische Quellen, um der Frage nachzugehen, wie sich die Gestaltung und Wahrnehmung des Raumes veränderte und welchen Einfluss dies auf wissenschaftliches und technisches Denken hatte. Forscher am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte nutzen hierfür neue Methoden zur Organisation und Analyse historischer Daten und haben das geografische Analysetool map-Places-In-Time (mapPIT) entwickelt, um verschiedene Quellen, umwelthistorische Daten und archäologische Befunde in einen räumlichen Zusammenhang mit kulturgeografisch relevanten Schriften zu setzen. Der in den Quellen des 14. Jahrhunderts beschriebene Wandel des sozialen Gefüges Chinas kann so mit der durch archäologische Funde belegten räumlichen Organisation der damals neu entstehenden urbanen Zentren und umwelthistorischen Daten zusammengebracht und erklärt werden.

Von Anfang an war Urbanisierung nicht nur eine soziale, sondern immer auch eine technische Herausforderung. Nur eine effiziente Infrastruktur ermöglichte es den Menschen, langfristig an einem Ort zu siedeln. Dies zeigt sich besonders nachvollziehbar in der Regelung der Wasserver- und -entsorgung. Beijing zum Beispiel kämpfte bereits seit seinen Anfängen mit einem unzureichenden Zugang zum Süßwasser. Drei der fünf großen Wasseradern, die die moderne Stadt Beijing auch heute noch versorgen, sind künstliche Zuleitungen, entstanden zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert. Die Veränderungen des Wasserlaufs und ihr Einfluss auf die Landschaft lassen sich noch heute anhand von Luftaufnahmen teilweise nachvollziehen.

Historisch litt Beijing – anders als heute – saisonal auch an einem „Zuviel“ an Wasser: So trat der Yongding-Fluss immer wieder über die Ufer, verlagerte seinen Lauf und bildete neue Arme, so dass Wohn- und Handwerkssiedlungen neu ausgerichtet oder Teile der Stadt sogar aufgegeben werden mussten. Mit jedem dieser Einflüsse auf den geografischen Raum passte der Mensch auch seine Fähigkeiten an und erweiterte seinen Wissenshorizont. Er beobachtete Erdbeschaffenheit und Klima, vermaß den Raum und analysierte Pflanzen- und Tierwelt. Während er Deiche, Kanäle, Häuser und Gärten baute und neue Landschaften schuf, entwickelte er auch neues Wissen über den Raum und räumliche Beziehungen, die er in Wort und Bild festhielt. In welchem Verhältnis steht die in diesen Dokumenten ersichtliche Vorstellung von Raum und räumlichen Beziehungen zu den Erkenntnissen, die aus archäologischen und materiellen Quellen gewonnen werden können?

Dem Ort selbst kommt eine wesentliche Bedeutung zu: Weil die geografische Verortung Wissen verlässlich dokumentiert, wird der Ort zu einem deskriptiven Faktor in der Geschichtsschreibung. In der räumlichen Verortung von Wissen wiederum manifestieren sich historisch die Konzepte und Modalitäten, die wissenschaftlichem und technischem Denken und Handeln zugrunde liegen und dieses beeinflussen.

Die Elemente, die eine Stadt als Ort des Wissens charakterisieren, sind selbst kulturell geprägt. Im klassischen chinesischen Staatsdenken war die Stadt ein sozialpolitisches Gebilde, welches durch verwaltungspolitische Maßnahmen zu beherrschen und durch rituelle Methoden zu ordnen war. Allgemein setzt die Geschichtsschreibung im chinesischen System die Sitze der Bezirks- und Distriktverwaltungen mit einer umschließenden Stadtmauer dem Status einer Stadt gleich. Während die Yuan-Herrscher dieses System verwaltungstechnisch nutzten, erkannten sie nur wenigen dieser Ansiedlungen einen unabhängigen Status, vergleichbar mit dem einer modernen Stadt, zu. In einem Dokument aus dem Jahr 1265 legten sie drei wichtige Kriterien fest, nach denen eine Ansiedlung als Stadt galt: (1) eine lange Geschichte, (2) eine hohe Bevölkerungsdichte oder (3) eine strategisch wichtige Lage. Eine Kartierung der Daten zeigt, dass die Yuan-Herrscher hierbei vor allem Orten im Norden der Region Jiangnan diesen Status zuerkannten. Nur wenige dieser „Städte“ zeichneten sich aber durch eine ungewöhnlich hohe Bevölkerungsdichte aus.

Literarische Quellen beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem hauptstädtischen Leben und beschreiben Städtebau daher auch immer als das Ergebnis bewusster Planung. Dabei spielte die Geomantik, das heißt die Analyse der Topografie im Zusammenhang mit klimatischen, meteorologischen und sozialen Daten, eine ebenso große Rolle wie strategische Gesichtspunkte oder die Bebauungs- und Siedlungsstruktur. Rituelle und kosmologische Diskussionen bestimmen sehr stark die philosophischen Schriften und Regionalkartografierungen dieser Zeit. Tao Zongyi 陶宗儀 (circa 1315–1403) illustriert so den Kaiserpalast Kaifengs und analysiert den Symbolismus der kaiserlichen Bauweisen. Im Gegensatz zur europäischen Stadt, die sich durch zentrale Gebäude wie Kirchen und Rathäuser auszeichnet, definiert sich die chinesische Stadt wesentlich durch die Stadtmauer; wichtige imperiale Bauten, wie der kaiserliche Palast, der Altar für landwirtschaftliche Opfergaben (Getreide und Land) und auch der Ahnentempel wurden ursprünglich oft außerhalb der Stadt angelegt. Khubilai Khan, der Gründer der Yuan-Dynastie, konzipierte zum Beispiel seinen Regierungssitz in der Hauptstadt Dadu (Yuan-zeitliche Bezeichnung von Beijing) als Neuansiedlung neben der bereits bestehenden Ansiedlung von Beijing und nicht auf deren Ruinen. Mit der Erhebung zur Hauptstadt und zum Sitz des Herrschers schuf Khubilai Khan eine zweigeteilte Stadt: Auf einem bis dahin unbesiedelten Areal von 60 Quadrat-Meilen (50 Quadratkilometer) entstand nördlich der 97 li (71,5 Quadratkilometer) großen Altstadt die Neustadt. Die Stadt wuchs also räumlich versetzt und dehnte sich nicht konzentrisch von einem Mittelpunkt aus. Es zeigt sich aber auch, dass sich die Besiedlung auf eine Fläche von 5 Quadratkilometer in der Neustadt konzentrierte. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, dass die Zahl der Beamten im Dokumentationsbüro von der Bevölkerungszahl abhängig war. Demnach müsste Dadu während der Regierungsperiode Khubilai etwa 1,5 Millionen Einwohner gehabt haben. Dies ist zwar auf der Fläche als intensive Siedlungsstruktur vorstellbar, aber archäologische Grabungen legen doch eher nahe, dass das Amt, welches die Einwohnerzahlen festhielt, korrumpiert war. Eine Zahl von etwa 150.000 Einwohnern scheint daher wahrscheinlicher. Zum Vergleich: Paris hatte im 12. Jahrhundert 100.000, im 13. Jahrhundert 240.000, im 18. Jahrhundert 670.000 Einwohner. Große Freiflächen in Dadu lassen zudem auf Parks und Gärten beziehungsweise landwirtschaftlich genutzte Flächen innerhalb der Stadtmauern schließen. Für die Zusammenstellung dieser Daten und deren Analyse wurde am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte das Webinterface mapPIT entwickelt. Es ermöglicht den Historikern, die komplexen historischen Veränderungen in der Wahrnehmung und Gestaltung des Raumes und räumlicher Strukturen in die Analyse historischer Wissensprozesse einzubinden. Das Interface bietet darüber hinaus auch die Möglichkeit, den Raum als Organisationsprinzip für die Zusammenführung verschiedenster Datenarten zu nutzen. Hier ergeben sich auch neue Instrumentarien für die historische Forschung und die Publikation von Forschungsergebnissen. Im Rahmen des technikhistorischen Projektes „Konzepte und Modalitäten: Praktischer Wissenstransfer in China“ entstand in Zusammenarbeit mit der Max-Planck-Forschungsgruppe um Dagmar Schäfer und Projekten der Abteilung I (Strukturwandel von Wissenssystemen, geleitet von Jürgen Renn), der Bibliothek und der IT-Abteilung des MPIWG sowie der Max Planck Digital Library ein auf intuitive Bedienbarkeit und höchstmögliche Flexibilität ausgerichteter Prototyp. Anwender können online Daten in Tabellenstrukturen in das Systems einlesen, verarbeiten und abrufen. Basierend auf Google Maps-Services werden anwenderspezifische Karten-Ebenen generiert, die miteinander kombiniert und bearbeitet werden können. Große Datenmengen können auf diese Weise einfach kartografiert, mit den digitalisierten Primärquellen verlinkt, analysiert und auch veröffentlicht werden.

Mithilfe von mapPIT können Historiker nun Daten unterschiedlicher Art zusammenführen, um zum Beispiel zu überprüfen, in welchem Verhältnis die literarische Beschreibung des Ortsgefüges zu Ausgrabungsfunden steht. Die kartografische Rekonstruktion zeichnet Muster und Ordnungsprinzipien auf. mapPIT ermöglicht den Forschern, Raum sowohl in seiner Dynamik darzustellen als auch den Ort als Referenzpunkt in der geisteswissenschaftlichen Forschung nutzbar zu machen.