Forschungsthemen

Abb. 1: Das U.S. Children’s Bureau (gegr. 1912) erweiterte und standardisierte Programme zur frühkindlichen Beobachtung, die zuvor im häuslichen Rahmen durchgeführt worden waren. Photo: Messvorrichtung für das Children’s Bureau, ca. 1920, Library of Congress, Prints and Photographs.

Nr 20
Babys beobachten in Fin-de-siècle-Amerika
Christine von Oertzen untersucht in ihrem neuen Projekt, warum Mitglieder der Association of Collegiate Alumane in den USA in den 1880er Jahren begannen, frühkindliche Entwicklung zu erforschen.

Charles Darwin und der französische Soziologe Hyppolite Taine waren unter den ersten Wissenschaftlern, die als junge Väter ihre Neugeborenen beobachteten und ihre Schlussfolgerungen in Essays veröffentlichten. Ihrem Beispiel folgend, griffen ab der Mitte der 1870er Jahre andere Gelehrte zu Stift und Notizbuch, um die Entwicklung ihres Nachwuchses genauestens zu protokollieren. Die 1882 veröffentlichte Studie des Jenaer Physiologen William Preyer, Die Seele des Kindes, stellte die erste ausführliche Studie über die körperliche und geistige Entwicklung eines menschlichen Wesens von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr dar. Stark von Darwins Evolutionstheorie beeinflusst, gingen die frühen Untersuchungen frühkindlicher Entwicklung davon aus, dass der menschliche Nachwuchs Evolutionsgeschichte durchlief: Reflex- und Instinkt geleitete Aktivität wandele sich dabei schrittweise in absichtsvolle und sprachlich kommunizierte Handlung. Die Beobachter der 1880er Jahre versuchten herauszufinden, wie genau in diesem Prozess die körperliche Reife den Grad der geistigen Entwicklung bestimmte. Eine kleine, aber bald einflussreiche Gruppe männlicher Physiologen und Psychologen nahmen Darwins und Preyers Anregung auf, die Kinderstube dem Bereich akademischer Wissenschaft einzuverleiben.

Dem Empirismus dieser Art waren jedoch enge Grenzen gesetzt. Der Zugang zu neugeborenen Beobachtungsobjekten beschränkte sich auf den eigenen Nachwuchs. Das Wiegen- und Kinderzimmer galt als intimster Bereich weiblicher Häuslichkeit und gestattete es männlichen Forschern nicht, ihren wissenschaftlichen Blick auf eine Vielzahl von Säuglingen zu auszuweiten.

Obgleich grundlegende Zweifel darüber herrschten, ob Frauen ihren „Babyfetischismus“ überwinden und die Entwicklung ihres Säuglings mit der erforderlichen Objektivität protokollieren konnten, ermunterten die wissenschaftlichen Experten junge Mütter schließlich, über die körperliche und geistige Entwicklung ihres Nachwuchses selbst Buch zu führen.

In den USA mündete der Enthusiasmus für die wissenschaftliche Beobachtung von Kindern in eine breite Bewegung, die als Child Study Movement bekannt geworden ist. In der Hauptsache richtete sich das Interesse der Bewegung auf Kinder im Schulalter. Die Erforschung der frühkindlichen Entwicklung blieb auf wenige Akteure beschränkt.

Auf der Basis von erhaltenen Notizbüchern, Briefen, Protokollen und Manuskripten untersucht mein Projekt, wie und mit welchem Erfolg die Association of Collegiate Alumnae (ACA) sich der Beobachtung von Säuglingen und Krabbelkindern verschrieb. 1881 gegründet, um Absolventinnen von Amerikas besten Frauencolleges und ko-edukativen Universitäten durch „praktische Bildungsarbeit“ zu vereinen, nahm sich die ACA der frühkindlichen Beobachtung von 1891 bis 1910 an. Die Initiative eröffnete Mitgliedern die Möglichkeit, sich trotz der damaligen Normen weiblicher Häuslichkeit auch nach ihrer Ausbildung weiter akademisch zu betätigen, und entwickelte sich zu einem der ehrgeizigsten wissenschaftlichen Projekte der ACA.

Die frühkindliche Forschung gebildeter Frauen

Im Jahr 1893 trat Milicent Shinn, Absolventin der University of California at Berkeley und Mitglied des ACA-Zweiges von Kalifornien, dem Committee on Child Study des Verbandes bei und übernahm zwei Jahre später die Leitung des Gremiums. Shinn hatte 1890 begonnen, ihre neugeborene Nichte Ruth zu beobachten, und sie führte bis zu deren siebentem Lebensjahr täglich Protokoll über ihre Entwicklung. 1893 präsentierte sie erstmals Ergebnisse ihrer Beobachtungen auf dem Jahrestreffen der National Education Association in Chicago, einem Kongress, der wie kein anderer Zuhörer und Experten anzog, die sich für die Entwicklung von Kindern interessierten. Mit ihren Publikationen etablierte Shinn sich – im Gegensatz zu den meisten anderen ihrer über den amerikanischen Kontinent verstreuten weiblichen Kollaborateurinnen – als wissenschaftliche Autorität, die auch in akademischen Kreisen Deutschlands hohe Anerkennung genoss. William Preyer begrüßte Shinns vierbändiges Hauptwerk Notes on the Development of a Child und dankte ihr in einem Brief, seine Aufmerksamkeit auf Aspekte gelenkt zu haben, die ihm selbst entgangen waren. Er lobte die Genauigkeit und Verlässlichkeit von Shinns Aufzeichnungen und bezog sich in den späteren Ausgaben seiner Seele des Kindes oft auf sie.

Shinn bestritt psychologische Theorien wie die, dass Babys „erst die Sinne und dann die Vernunft entwickeln, erst das Objekt und dann das Wort begreifen, erst geschickt und dann gescheit werden.“ Empirie gegen Theorie setzend, kam sie auf der Basis genauer Beobachtung ihrer kleinen Nichte zu dem Schluss, dass „Babys sich an keine dieser Ordnungen halten, wenn man sie ihren eigenen Interessen folgen lässt.“

Shinns Ziel war es herauszufinden, „wie die menschlichen Fähigkeiten sich zu dem entwickelt haben, was sie heute sind.“ Um ihr hohes Ziel zu erreichen, instruierte sie die Mitglieder der ACA quer über den Kontinent, ihre Beobachtungen mit der größten Genauigkeit durchzuführen und forderte streng wissenschaftliche Standards bei der Feldarbeit in der Wickelstube ein, auch wenn dies angesichts der vielfältigen häuslichen Pflichten von Ehefrauen und Müttern ein schwieriges Unterfangen war.

Unter Shinns Anleitung reifte das Committee on Child Studies der ACA zu einem Netzwerk von etwa 25 häuslichen Beobachterinnen. Shinn nahm die Rolle des primus inter pares ein; sie unterhielt eine aufwendige Korrespondenz, gab schriftlichen Rat und regte ihre Mitstreiterinnen zu breiter wissenschaftlicher Lektüre an. Sie analysierte die ihr zugesandten Aufzeichnungen und nutzte diese für Vergleiche mit ihren eigenen Beobachtungen. Der sichtbarste Ertrag dieser kontinentalen Unternehmung war Shinns 285-seitiges Werk The Development of the Senses in the First Three Years of Life. Im Unterschied zu damals existierenden wissenschaftlichen Studien über Babys und Kleinkinder legte Shinn mit dieser Veröffentlichung im Jahr 1907 eine erste vergleichende Untersuchung vor, die alle publizierten und ihr im Manuskript vorliegenden Beobachtungen zusammenfasste. „Das Resultat dieses umsichtig zusammengestellten Materials“, so urteilte eine Rezension im American Journal of Psychology im Jahr 1909, „ist der systematischste und vollständigste Beitrag zur frühkindlichen Entwicklung, den die Psychologie bislang hervorgebracht hat.“

Milicent Shinn with her object of study, Ruth, at the age of seven. In: M. Shinn, Körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes in biografischer Darstellung. Übersetzt ins Deutsche und hg. von W. Glabbach und G. Weber, Langensalza 1905.

Abb. 2: Milicent Shinn mit ihrem Untersuchungsobjekt, Ruth, im Alter von sieben Jahren. Aus: M. Shinn, Körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes in biografischer Darstellung. Übers. und hg. von W. Glabbach und G. Weber, Langensalza 1905.

Wissenschaft jenseits der Akademie

Der Erfolg von Shinns Notes on the Development of the Senses bezeugte die Produktivität des weit verstreuten ACA-Netzwerks. Aus der Perspektive der wissenschaftlichen Rezeption ist Shinns Stimme hingegen als Solo überliefert, obgleich sie Teil eines Chores war, der aus etlichen ans Haus gebundenen College-Absolventinnen bestand.

In meiner Analyse der kollektiven Beobachtung von Babys, wie sie unter der Regie der ACA praktiziert wurde, verwischen sich die Grenzen von Universität und Privathaushalt, institutionell verankerten Experten und in Eigenregie forschenden Amateurinnen. Als entscheidende Grenzlinie zwischen meist von Männern in Laboren und Seminaren geleisteter und bezahlter wissenschaftlicher Arbeit auf der einen und der überwiegend unbezahlt und von Frauen durchgeführten Wissenschaft im Haushalt auf der anderen Seite erwies sich nicht die Qualität der Arbeit, sondern die Möglichkeit, diese auch zu publizieren. Milicent Shinn stellte eine Ausnahme von dieser Regel dar. Die Geschichte der Erforschung frühkindlicher Entwicklung regt an, weiter aufzuspüren, was ansonsten jenseits derjenigen institutionellen Netzwerke erforscht wurde, die unser Verständnis von Wissenschaft bis heute prägen.