Lassen wir ihn die Sprache wieder erobern
Eine neue Max-Planck-Forschungsgruppe, geleitet von Sabine Arnaud, erforscht die Konstruktion von Taubheit in Europa und den USA von 1600 bis 1900.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts bekräftigt die dritte, erweiterte und vom Flämischen ins Französische übersetzte Ausgabe der Liste littéraire philocophe ou catalogue d’étude de ce qui a été publié jusqu’à nos jours sur les sourds-muets sur l’oreille, l’ouïe, la voix, le langage, la mimique, les aveugles [Literarisch-philosophische Liste oder Katalog der Studien, die bis zum heutigen Tag über die Taubstummen veröffentlicht worden sind; über das Ohr, das Gehör, die Stimme, die Sprache, die Mimik und die Blinden] den grundsätzlich interdisziplinären Charakter von Untersuchungen derjenigen, die man damals die Taubstummen nennt. Die Bibliographie verzeichnet auf nahezu 500 Seiten lateinische, französische, flämische, englische, spanische und italienische Abhandlungen. Es ist die Frucht der Arbeit von zwei Brüdern, der eine Doktor der Medizin, der andere Doktor des Rechts; beide sind als Lehrer von Taubstummen tätig. Ihre Bibliographie, scheint es, müßte die Vielfalt der Zugangsweisen unterstützen und bekräftigen. Wie die Brüder selbst schreiben, soll ihre französische Übersetzung die internationale Zielsetzung deutlich machen, das Vorwort ist an die Kollegen jenseits der Grenzen gerichtet. Die beiden Autoren bedanken sich für die übersandten Literaturnachweise bei zahlreichen staatlichen Stellen, bei Gelehrten sowie bei Direktoren von Taubstummenanstalten in Europa und in Amerika. Sie ersuchen um weitere Ergänzungen und Berichtigungen und betonen ausdrücklich die Notwendigkeit, eine Geschichte der Taubstummen-Erziehung von ihren ersten Anfängen an zu schreiben. Was sofort ins Auge fällt ist die erstaunliche geographische, historische und thematische Spannweite des Werks. Das Studium der Taubstummen beansprucht, transnational zu sein, und sich in einer eigenen Geschichte zu verankern: Es geht darum, die Reichweite der Fragestellungen festzulegen, die aus der Beschäftigung mit den Taubstummen erwachsen. Statt der chronologischen Abfolge haben die Autoren einer systematischen Ordnung den Vorzug gegeben. In einem ersten Teil werden die Werke aufgeführt, die mit dem Unterricht zu tun haben, mit dem „Charakter“ und der „moralischen Verfassung“ sowie dem sozialen Stand der Taubstummen; es folgen ihre Lehrer und die Institutionen, die sich mit Taubstummen beschäftigen. Danach werden die medizinischen Abhandlungen zusammengestellt, die sich mit dem Ohr und dem Gehörsinn und deren Mängeln und Gebrechen beschäftigen. Sodann folgen Experimente zur Heilung der Taubheit mit Elektrizität, durch Perforation der Mastoid-Apophyse, Durchstechen des Trommelfells, Katheterisierung der Eustachischen Röhre, mittels animalischem Magnetismus. Gegenstand des dritten Teils ist die Mimik; darin werden Werke katalogisiert, die sich mit mimischer Kunst beschäftigen, mit Pantomime, Rede- und physionomischer Kunst. Untersuchungen über die Sprache werden im vierten Teil zusammengefasst, unterteilt in den Ursprung der Sprache, die Idee einer Universalsprache, die allgemeine Grammatik, Syntax, Ideologie, Zeichen und die Beziehungen zwischen Sinnen und Sinnesempfindungen, die „Sprache des wilden Menschen“, Schrift und Schriftzeichen und schließlich die sogenannten künstlichen Sprachen, wie die Telegraphie, die Daktylologie (Finger- und Gebärdensprache) und die Stenographie. Das Werk schließt mit einer Bibliographie, die den Blinden gewidmet ist. Diese Unterteilung führt dazu, dass bestimmte Titel in mehreren Abteilungen auftauchen, damit jede vollständig ist. Durch seinen klassifikatorischen und repetitiven Charakter veranschaulicht das Werk die Überlagerung und die Überkreuzung der Wissensgebiete, die sich bis zum damaligen Zeitpunkt entwickelt hatten.

Nachor Ginouvrier: Leçon de l'Abbé de l'Epée, Institut National des Sourds-Muets (Paris).

Abb. 2: Nachor Ginouvrier: Leçon de l'Abbé de l'Epée, Institut National des Sourds-Muets (Paris).

Jedoch braucht es nicht viel mehr als eine Generation, um diesen enzyklopädischen Ansatz in Frage zu stellen. Als 1880 der Mailänder Kongress zu Ende geht, wird die Beziehung des Menschen zum Sprechen als vorrangig postuliert. Die versammelten Mediziner sehen in der Entfaltung eines ganzen Sortiments von Instrumenten den Schlüssel zum Problem der Taubstummheit. Die Otologie präsentiert sich als Wissenschaft, die mehr als 250 Jahre Anwendung der Daktylologie (in der jeder Buchstabe durch eine Geste der Hand repräsentiert wird) in Frage stellt, und fast ebenso viele Jahre der „Chironomia“ (welche bestimmte Ausdrücke durch Handbewegungen darstellt). Die Mediziner verurteilen die Verwendung einer gestischen Sprache als Zeitverschwendung und sehen darin überdies die Gefahr der Isolierung. Die jüngste Komplexifizierung der Terminologie, mit der Taubheit und Stummheit beschrieben werden, ist sich in der Zuweisung von Ursachen einig und macht aus Taubheit und Stummheit ein Problem, das mit einer Reihe von Instrumenten angegangen werden kann, deren Vervollkommnung keinen Aufschub duldet. Das medizinische Wissen etabliert seine Autorität, indem es eine Norm für die menschliche Gattung aufstellt; die Mediziner rücken so in die Position derjenigen, die gehörlose Menschen einer Umerziehung unterwerfen. Und wenig später kann Doktor Lannois verkünden: „Lassen wir ihn die Sprache wieder erobern, damit er seinen Gedanken, seinem Willen und seinem Herzen Ausdruck verleihen kann.“ Die Verlautbarungen des Kongresses werden in gesetzlichen Regelungen aufgegriffen, die in mehreren europäischen Ländern getroffen werden und die eine Unterweisung in der Gebärdensprache untersagen. Indem das Verbot der Zeichensprache Gesetzeskraft bekommt, wird gleichzeitig die Behauptung aufgestellt, man könne durch einen Gesetzesakt die Stummheit zum Verschwinden bringen.

Paradoxerweise ist um 1880, will man den Medizinjuristen glauben, der Taubstumme sehr viel mehr als ein Mensch, der nicht hört und nicht spricht – oder viel weniger. Eine ganze Anzahl von Texten beschäftigt sich damit, seinen Charakter zu schildern, ihm eine psychologische Tiefe zu geben. Angefangen mit dem Bericht von Jean Itard über Victor, das Wildkind von Aveyron – verfasst Anfang des Jahrhunderts, ein Fall, dessen Berühmtheit bis heute anhält – haben zahlreiche Mediziner und Erzieher üppig detaillierte Berichte über ihre Erfahrungen mit Taubstummen veröffentlicht. Jeder bemüht sich, eine Reihe von Äquivalenzen herzustellen zwischen einem auditiven Mangel und der Absenz von moralischen Werten oder sozialen Fähigkeiten. Etliche Mediziner präsentieren den Gehörlosen als „unvollständiges“ Individuum, das einer eigenen Kategorie angehört, der Kategorie der Anormalen.

Den Taubstummen definieren, darüber bestimmen, welche Fortschritte er machen muss und was aus ihm werden soll, heißt auch festlegen, wer das Sprachrecht über den Taubstummen hat. Es heißt, festlegen, ob man ihn heilen soll, wie man seine Lebensqualität erhöhen kann und seine Chancen, eine Rolle in der Gesellschaft einzunehmen. Es heißt, eine Verantwortlichkeit der Gesellschaft für ihn zu etablieren. Indem diese Texte ein Gebrechen eingrenzen, definieren sie zugleich, wer bezüglich dieses Gebrechens über Kompetenzen verfügt. Probleme gibt es ebenso viele wie es Disziplinen gibt, um sie zu beschreiben oder zu lösen: auditive, moralische, mentale, legale, erzieherische, soziale ... Und die zahlreichen Beschreibungsweisen erlauben es den diversen Kompetenzen, sich zu entfalten und ihre Autorität auszuspielen.

Edouart Hocquart: L’art de juger du caractère des hommes sur leur écriture. Paris 1816, plates 1–2. The Blocker Collection, Moody Medical Library, The University of Texas Medical Branch, Galveston.

Abb. 3: Edouart Hocquart: L’art de juger du caractère des hommes sur leur écriture. Paris 1816, Tafel 1–2. The Blocker Collection, Moody Medical Library, The University of Texas Medical Branch, Galveston.

Diese Studie zeichnet die verschiedenen Wege nach, auf denen aus einer Hörschwellen-Differenz ein Problem wurde, das zu lösen ist; in welchen Kategorien dieses Problem im medizinischen, philosophischen und juristischen Feld gedacht wurde, und wie sich das im Verlauf von drei Jahrhunderten verschoben hat. Sie nimmt ins Visier, wie die Hörend-Sprechenden die Beziehung zur Sprache zum Ausgangspunkt einer Betrachtung des Menschen erklärt haben. Der Fokus dieser Arbeit, von dem aus die verschiedenen Stränge verfolgt werden sollen, liegt auf einer Analyse von Beschreibungsweisen. Ein Ziel ist es, zu analysieren, wie das, was an politischen, epistemologischen und kulturellen Einsätzen im Spiel ist, sich einschreibt in die Formulierung der Ideen und in die Wahl der Termini, in die Imaginationen, die dabei herangezogen werden, und die Definitionen, die vorgeschlagen werden. Über eine Geschichte von Ideen oder Experimenten hinaus soll es darum gehen, wie diese Ideen und Experimente ausgesprochen worden sind. Die Analyse der Aussagen soll es ermöglichen, gleichzeitig dreierlei ins Auge zu fassen: die begrifflichen Entscheidungen, die zur Konstruktion von bestimmten Wissenssystemen führen, deren Zirkulation sowie die Formierung von Öffentlichkeiten, an die sie gerichtet sind.