Im Jahr 1644 erklärten die Mandschu Beijing zum Sitz ihres Hofes. Diese Wahl war strategisch problematisch, denn Beijing, die nördliche Hauptstadt lag weit ab vom reichen Süden. Dies war nicht die einzige Herausforderung, der sich die neuen Herrscher Chinas, die ihrer Dynastie den Namen „die Leuchtenden“ (Qing) gaben, stellen mussten. Beijing war bereits in den zwei vorangegangenen Dynastien, Yuan und Ming, Hauptstadt gewesen. Um ihre Herrschaft zu legitimieren, rekurrierten die Mandschurischen Qing auf mongolische Traditionen und distanzierten sich gleichzeitig von den eroberten Ming. In diesem Geist gestalteten sie auch ihr kaiserliches Zentrum und setzten damit nicht nur politisch sondern auch kulturell und intellektuell den Maßstab, der ihre Herrschaft kennzeichnen sollte. Die historische Matrix von Wissen und Macht der Qing stand im Mittelpunkt eines Kooperationsprojekts zwischen der Selbständigen Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Konzepte und Modalitäten praktischen/technischen Wissens, unter der Leitung von Dagmar Schäfer, und ausgewählten Experten des Palastmuseums in Beijing (Gugong bowu yuan). Anhand der archivierten Dokumente zur Verwaltung von Produktionsbereichen wie Porzellan, Emaille, Seide, Jade, Inneneinrichtung und Bronze-Skulpturen untersuchte die Gruppe von Wissenschaftler die Bedingungen für technischen Wissenstransfer im historischen Kontext. Im Mittelpunkt stand die Frage, unter welchen Bedingungen lokales Wissen aus ländlichen Regionen an den Hof gelangte und dort zum Universalgut erklärt wurde – oder umgekehrt, welche Rolle das höfische Wissen bei der Einführung von Standards und Qualitätsnormen auf lokaler Ebene spielte.
Die Forscher im Palastmuseum in Beijing arbeiten direkt in dem Architekturkomplex, der auch heute noch als „die Verbotene Stadt“ bekannt ist. Als erfahrene und angesehene Kunsthistoriker und Experten auf dem Gebiet der Restaurierungstechniken begrüßen sie die Gelegenheit, ihr Gebiet aus historischer und technischer Perspektive neu zu betrachten. Das Spezialwissen der interdisziplinären Kooperation sowie der unbeschränkte Zugang zu den Sammlungen und riesigen Archiven des Museums helfen bei der Suche nach Antwort auf die Frage nach der Rolle von Wissensvermittlung und Technologietransfer im imperialen China. Ausgangspunkt der Untersuchung ist hierbei die Medienkultur dieser Periode. In den Archiven der Verbotenen Stadt befinden sich neben den administrativen Dokumenten Rechnungen, Material- und Arbeiterlisten, Edikten und Erlassen auch unzählige Skizzen, Modelle, Muster und Werkzeuge, die zwischen Hof und Produktionsort ausgetauscht wurden. Dieses, teilweise erstmals einer internationalen Forschung zugänglich gemachte, umfangreiche Material liefert neue Erkenntnisse darüber, was in dieser Epoche als so wichtig bewertet wurde, das es vermitteln werden sollte, und auf welche Weise es vermittelt werden sollte und an wen. Welche Informationen wurden ausgewählt, wie wurden diese verschlüsselt, welche Themen wurden institutionalisiert oder standardisiert und welchen ließ man freien Lauf — all diese Fragen schufen den Raum, in dem sich Technologie entwickelte oder nicht.
Eine Hauptstadt ist nicht nur ein politisches Zentrum. Sie hat auch die Aufgabe, die Ideale der Wissenssystems einer Periode oder eines Herrschers zu repräsentieren und dabei die sozialen, wirtschaftlichen und zentralen Funktionen der Stadt aufrechtzuerhalten. Zudem ist sie häufig Anlaufpunkt für neue Ideen und Konzepte. Tatsächlich war die Qing-Dynastie, die letzte Dynastie, dafür bekannt, außergewöhnlich viel in ihre Informationsinfrastruktur zu investieren. Da der Hof für alle Entscheidungen beim gesamten Herstellungsprozess von Gütern verantwortlich war, wurden die Fragen minutiös dokumentiert und sorgfältig aufbewahrt. Jede Sache und jedes Ereignis am Hofe wurde mit Informationen über den Herstellungsprozess schriftlich festgehalten.
Angesichts der modernen Kommunikationslandschaft erscheinen historische Formen der Wissensvermittlung, insbesondere auf dem Gebiet des praktischen Know-hows oft als langsam und ineffizient. Die Kommunikationsmittel und -methoden in der Qing-Dynastie mögen tatsächlich nicht so schnell und technisch ausgereift gewesen sein wie unsere moderne Informationstechnologie. Doch in ihrer Zielsetzung, einer genauen Übermittlung, unterscheidet sie sich nicht wesentlich von modernen Informationssystemen. De Facto musste sie dieser sogar in diesem Punkt überlegen sein, denn die Berichtigung von Fehlern jeder Art war kosten- und zeitaufwändig. Tatsächlich unterscheidet sich die Infrastruktur der historischen und modernen Informationssysteme nicht wesentlich. Beide gehen von der gleichen Voraussetzung aus: die umfassende Sammlung aller Arten von Daten, Bits und Bytes, die dann gespeichert, abgelegt und klassifiziert werden, dann verschwinden oder neu ausgewählt, zusammengestellt und anderen Nutzungen zugeführt werden. Beide Systeme sammeln auch Informationen auf unterschiedliche Weise, speichern diese auf verschiedenen Medien, auch wenn die digitale Welt Datenbanken mit Fotos, Video-Clips, Bildern und Filmen nutzt, während in der anologen Welt des siebzehnten Jahrhunderts mit diversen Repositorien, Datensammlungen, Textarchiven und Skizzen, drei-dimensionalen Modellen, Werkzeugen und Mustern gearbeitet wurde. Eine eingehende Untersuchung der Relikte der Kommunikationskultur aus der Zeit der Qing-Dynastie eröffnet uns einen Einblick in die komplexen Zusammenhänge, aus denen diese Generation ihr Wissen schöpfte und historisch formte.
Die chinesischen Beamten führten Buch über Rohmaterialien, bewerteten Arbeitsprozesse oder kontrollierten Produktionslogistik und Entscheidungsstrukturen. Sie interessierten sich auch für Fragen der Form, der Verarbeitung und des Designs, und sie produzierten Muster, damit sich der Kaiser anhand von Skizzen oder drei-dimensionalen Modellen die Produkte optisch vorstellen konnte. Mit Hilfe der Skizzen und Modelle konnten außerdem detaillierte Verarbeitungsprozesse an denjenigen Kunsthandwerker, Handwerker oder Arbeiter weitergegeben werden, der diese Stücke tatsächlich herstellte. Auch die soziopolitischen Prämissen der technischen Entwicklung finden in dem Projekt Beachtung: die sozialen Beziehungen zwischen Kunsthandwerker und Herrscher, Beamten und Arbeiter, die Beteiligung von Mandschu, Han-Chinese oder Tibetern Handwerkern aus Jiangsu oder Guangdong, die Einbindung von Buddhisten, Konfuzianern oder Jesuiten. In der Qing-Ära standen die Beamte und Gelehrte weit über den Handwerkern. Außerdem trennte die Zugehörigkeit zu einem Berufsstand ländliche Arbeiter von den geschützten Gilden der oberen Gesellschaftsschichten und des Handels. Das Interesse der Beamten und Gelehrten an den Handwerkern und das Engagement, das sie technischen Entwicklungen entgegenbrachten, zeigte sich nicht darin, dass Kunsthandwerker anerkannt oder Technologie als eine Kategorie im modernen Sinn geschätzt wurde; vielmehr bestand ihr Interesse darin, dass der Kunstgegenstand und seine Produktion geachtet wurde. Wollen wir heute die Bedeutung der Medien selbst erkennen, müssen wir die technische Entwicklung in einer höheren Ordnung der im späten chinesischen Kaiserreich vorherrschenden Denkweisen ansiedeln, die an Selbstinszenierungen und bestehende, soziale Netzwerke mit klaren Verhaltensregeln sowie kosmologischen Betrachtungen gekoppelt waren. Aus dieser Perspektive erwiesen sich die Qing-Herrscher als äußerst umsichtig und weise: Wenn es um technische Fragen ging, hofierten sie das Handwerk und zwangen es nicht in Schranken.
Die Ergebnisse dieser innovativen und fruchtbaren interdisziplinären Zusammenarbeit werden nun in einem Sammelband veröffentlicht: History of Exchange of Craft Techniques between the Imperial Court and the Local: From the Qing Dynasty until the Qianlong era (1735-1796) (zunächst in Chinesisch, eine weitere englischsprachige Publikation ist in Arbeit). Mit einer Einleitung von Dagmar Schäfer (Herausgeberin) und Beiträgen folgender, hier mit ihrem Fachgebiet aufgeführten, Forscher: GUO Fuxiang, Jade; LUO Wenhua, buddhistische Bronze-Skulpturen; WANG Guangyao, Porzellan; XU Xiaodong, Emaille; ZHANG Qiong, Seide und ZHANG Shuxian, Inneneinrichtung. Das Buch schildert, welche bedeutende Rolle jedes dieser sechs ausgesuchten Gebiete im politischen, sozialen, rituellen und wirtschaftlichen Kontext spielte. Detaillierte Untersuchungen des praktischen Wissenstransfers und der tatsächlichen Produktionsprozesse verdeutlichen, welche zentralen technischen Entwicklungen in dieser Ära als wichtige Erkenntnisse gewertet wurden und was bei der Herstellung von Gütern als Grundwissen oder als außergewöhnlicher Sachverstand eingestuft wurde. Welche Informationen wurden in Skizzen, drei-dimensionalen Modellen, Texten oder durch die Entsendung von Experten übertragen, wann und wo wurden diese übertragen und auf welchem Wege und mit welchen Mitteln? Einige der von LUO Wenhua in seiner Arbeit über den technischen Austausch zwischen dem Qing-Hof und Tibet angesprochenen Themen behandeln beispielsweise Konsum und Produktion, den Einsatz und die Verbreitung von Technologien sowie die Auswirkungen der geografischen Entfernungen zwischen den eigentlichen Produkutionszentren und den kreativen Zentren, wo die Entwürfe entstanden. Dieselben Themen tauchen auch in XU Xiaodongs Arbeit über die Verflechtung des Hofes und der Produktion von bemalter Emaille auf. Durch die Einführung neues Wissens am Hof, etwa die tibetanische/nepalesische Technik zur Herstellung von Bronze-Skulpturen oder das europäische Bemalen von Emaille, nutzten die Qing-Herrscher das Potenzial des Technologietransfers geschickt als politisches Mittel, um ihr Kaiserreich aufzubauen und gleichzeitig kulturellen Unterschieden Rechnung zu tragen.