Forschungsthemen

02. Tenga (Cocos nucifera L.) aus dem Hortus Indicus Malabaricus, Band 1

Legende: Auf dieser Doppelseite ist die Cocos nucifera L. in unterschiedlichen Wachstumsphasen zu sehen: Links sprießt eine junge Palme aus dem Boden empor und bildet die Steinfrüchte, aus denen neue Pflanzen entstehen. Die Palmwedel werden größer, und am Stamm eines kräftigen jungen Baums ist ein Behältnis zum Auffangen von Palmwein (Toddy) befestigt. Rechts neigt sich ein Palmwedel hinter einer ausgewachsenen Palme über das Blatt.

Nr 82
Hortus Indicus Malabaricus: Der eurasische Lebensweg eines „europäischen“ Klassikers der Botanik aus dem 17. Jahrhundert
In den 1650er Jahren entwickelte die Niederländische Ostindien-Kompanie (VOC) eine Reihe von Initiativen, um die Natur in Asien besser zu erforschen. Das nötige Know-how lieferte ihr weitreichendes Netzwerk aus Handelsreisenden, Kapitänen, Seeleuten und Medizinern. Diese transportierten die in Europa begehrten asiatischen Naturobjekte in ihre Heimat, wo sie von ihren Begegnungen mit den neuen Welten berichteten.

Zu den bekanntesten ihrer detaillierten und auf eigene Erfahrungen gestützten Pflanzenbeschreibungen gehört der Hortus Indicus Malabaricus („Garten von Malabar“). Dieses 12-bändige Kräuterbuch, das zwischen 1678 und 1693 in Amsterdam erschien, katalogisiert die Verwendung von Heilpflanzen im Südwesten Indiens (dem heutigen Bundesstaat Kerala).01

Trotz der Bedeutung des Gartens von Malabar für die moderne botanische Taxonomie und die frühneuzeitliche Naturgeschichte – der Naturforscher Carl von Linné beschrieb auf seiner Grundlage insgesamt 100 Pflanzenarten – fand das Werk bisher nur wenig Beachtung in der historischen Forschung. In meinem Projekt untersuche ich den Malabaricus aus zwei Perspektiven, wobei ich Methoden der Archivforschung mit ethnografischen Methoden verknüpfe. Zum einen betrachte ich das Werk als Ergebnis der niederländischen kolonialen Wissensproduktion über die Natur. Neben der visuellen Gestaltung analysiere ich die Verwendung einheimischer Pflanzennamen ebenso wie die Erfahrungswelten, die in die Pflanzenbeschreibungen verwoben sind. Zum anderen erkunde ich die kulturelle und politische Bedeutung des Hortus Malabaricus im heutigen Kerala. Dort gilt er als Informationsquelle über die traditionellen Heilmethoden der unteren Kasten. Der Hortus Malabaricus ist ein Werk, das im heutigen Kerala urheberrechtlich hart umkämpft ist. Angehörige der Ezhava-Gemeinschaft erheben alleinigen Anspruch auf das in den einzelnen Bänden enthaltene Wissen.

Frontispiece of Hortus Malabaricus

01. Frontispiz, Hortus Malabaricus. Quelle: https://www.biodiversitylibrary.org/item/14375#page/4/mode/1up

Die wunderbare Welt der Illustration im Hortus Malabaricus

Der Garten von Malabar ist ein wundersames Werk. Seine Doppelfolio-Tafeln sind über und über mit „exotischen“ Naturdarstellungen von überwältigender Schönheit gefüllt – liebevoll bis ins kleinste Detail illustriert. Der erste Band zeigt gleich zu Beginn die unterschiedlichen Wachstumsphasen einer Kokosnusspalme, der Tenga (Cocos nucifera L.). Dort sieht man neben einer ausgewachsenen Palme mit gekrümmtem Stamm und wehenden Blättern und einem reiferen Exemplar auch ein auf dramatische Weise diagonal über die Seite gespannter Palmwedel. Diese Form der Darstellung zieht sich durch das gesamte Werk und unterscheidet sich deutlich von der im damaligen Europa gängigen Bildsprache.02 Im Malabaricus finden sich Abbildungen von abgeschnittenen Zweigen, die den Aufbau einer Pflanze verdeutlichen. In aufwändig gestalteten Bildfolgen werden die Objekte zum besseren Vergleich Seite für Seite immer näher „herangezoomt“ – bis hin zu „Nahaufnahmen“ oder Querschnitten von Früchten oder Samen.03

Print of Tenga from Hortus Indicus Malabaricus

02. Tenga (Cocos nucifera L.) aus dem Hortus Indicus Malabaricus, Band 1

Legende: Auf dieser Doppelseite ist die Cocos nucifera L. in unterschiedlichen Wachstumsphasen zu sehen: Links sprießt eine junge Palme aus dem Boden empor und bildet die Steinfrüchte, aus denen neue Pflanzen entstehen. Die Palmwedel werden größer, und am Stamm eines kräftigen jungen Baums ist ein Behältnis zum Auffangen von Palmwein (Toddy) befestigt. Rechts neigt sich ein Palmwedel hinter einer ausgewachsenen Palme über das Blatt.

Wie lässt sich die Bildsprache des Malabaricus beschreiben? Auf den ersten Blick scheint die Sammlung streng den europäischen Regeln der naturwissenschaftlichen Illustration zu folgen – mit einem kleinen, aber feinen Unterschied. Die diagonale Anordnung der Abbildungen sowie die Nutzung von schwarz-weißen Gravuren waren offenbar charakteristisch für Darstellungen von Naturalia in europäischen kolonialen Kontexten. Sie luden ein zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung und zum Vergleich mit Manuskripten und Illustrationsgrafiken aus anderen Kolonien, beispielsweise in Südostasien. Hendrik Adriaan van Rheede tot Drakenstein (1636–1691), der Schöpfer des Malabaricus, dokumentierte seine Faszination mit nahezu sinnlicher Detailtreue: „Manche mögen die vielen kleinen Details in den Pflanzenbeschreibungen vielleicht langweilen. Doch tatsächlich haben wir gerade darauf besondere Sorgfalt verwendet.“ (Vorwort zu Band III). Van Reede hat seine praktischen Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Sammlung – dem Betrachten, Berühren und Schmecken – von Pflanzen unübersehbar in die Gestaltung der Bilder einfließen lassen.

Three pages from Malabaricus showing flowers and coconuts

03. Diese beiden in Band 1 aufeinanderfolgenden Tafeln zeigen mehrere Blumen in verschiedenen Blütephasen – mit Knospen, frisch geöffneten Blüten, jungen Früchten – und eine kleine erläuternde Zeichnung zur Entwicklung des Fruchtknotens, des Blütenkelchs und der Blütenblätter. Auf Tafel 3 sind unreife Kokosnüsse in ihrer grünen Außenschale zu sehen. Die Folgeseite zeigt Nahansichten der reifen Steinfrüchte mit und ohne ihre harte Innenschale.

Die erläuternden Texte im Hortus Malabaricus

Wie sieht es dagegen mit den erläuternden Texten aus? Das Grundprinzip, das sich dahinter verbirgt, lässt sich in einer Weisung der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) an ihre Beamten in Ceylon (Sri Lanka) und an der Koromandelküste (Südostindien) erkennen: Diese sollten sich dem Studium der Heilpflanzen widmen, um die Einfuhr von Arzneimitteln möglichst gering zu halten. Die Abbildungen enthalten nichtsdestotrotz kaum Hinweise auf die medizinische Wirkung oder die therapeutische Verwendung der Pflanzen. Zudem weist der Text keinerlei Bezüge zu Theorien der klassischen ayurvedischen Medizin auf, obwohl drei brahmanische Mediziner – Ranga, Apu und Vinayaka Bhatt – die Authentizität des im Malabaricus vermittelten Wissens bestätigen. Die Pflanzennamen sind im Malabaricus nicht in Sanskrit, sondern in Malayalam und Konkani (zwei südwestindischen Sprachen) sowie in den Schriften Nagari, Malayalam (Kolezuthu), Arabi-Malayalam und in lateinischer Schrift notiert.

Dies wirft die Frage auf, wessen Wissen die erläuternden Texte vermitteln. Viele von ihnen verweisen auf die Verwendung der Pflanzen als Gegenmittel bei Vergiftungen durch Tiere und Pflanzen. Malabar war bekannt für seine vielfältigen Traditionen des Viṣacikitsā (der „Behandlung von Vergiftungen“), die auf kastenspezifischen Wissenspraktiken beruhten und von den Menschen aus den Niederlanden während ihrer Zeit dort übernommen wurden. In Band I bezeugen zahlreiche einheimische Wissensträger die Berücksichtigung dieser „lokalen“ Wissensquellen. Darunter auch der Ezhava-Arzt Itty Acchudan, der in einer Erklärung die Richtigkeit der Informationen bezeugt, die er seinen niederländischen Gesprächspartnern vermittelt hatte:

„Ich, Itti Achudem, Arzt aus Malabar (…), bestätige hiermit, dass ich auf Anordnung von Gouverneur Henry A. Rheede in die Stadt Cochin gekommen bin und (…) Namen, Heilkräfte und Eigenschaften von Pflanzen, Bäumen, Kräutern und Schlingpflanzen benannt und bestimmt habe, die in unserem Buch beschrieben und erläutert werden und die ich aus langjähriger Erfahrung und Praxis kenne (…)“

Die öffentliche Wahrnehmung des Hortus Malabaricus im heutigen Kerala

Im Jahre 2003 veröffentlichte der angesehene Ezhava-Botaniker K. S. Manilal eine englische Übersetzung aller 12 Bände des Malabaricus. Seine Arbeit machte deutlich, dass die historisch niedere Kaste der Ezhava über einen reichen medizinischen und botanischen Wissensschatz verfügt. Seitdem setzen sich die Ezhava in Kerala dafür ein, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für den Malabaricus als kulturelles Eigentum der Ezhava-Community zu stärken. Dieses Engagement hatte beispielsweise auch die Einrichtung eines „Hortus Valley“ im Botanischen Garten von Malabar und Institute for Plant Sciences in Kalikut im Norden Keralas zur Folge. Dort können 432 der im Malabaricus beschriebenen Pflanzenarten in eigenen Beeten bewundert werden – begleitet von einer Tafel mit ihrem Malayalam-Namen, ihrer modernen botanischen Bezeichnung und ihrer Verwendung als Heilpflanze.

Das prunkvoll gestaltete Portal ins „Hortus Valley“ bringt die kulturelle Bedeutung dieses Projekts auf besonders eindrucksvolle Weise zum Ausdruck: Auf dieser Nachbildung des Frontispiz des Malabaricus in Form eines Flachreliefs trägt ein Ezhava-Paar – anstelle der weiblichen Säulenfiguren auf dem Original-Kupferstich – das Gewicht des Buchtitels. Ein Bildnis von Itty Acchudan, in seiner Linken das Manuskript eines Palmenblattes, in seiner Rechten ein als Arzneimittelbehälter verwendetes Muschelhorn, ersetzt das der indischen Göttin der Botanik.04 Die Aussage dieser Darstellung ist mehr als eindeutig: Das im Malabaricus enthaltene Wissen ist Eigentum der Ezhava…

04. und 05. Klicken Sie auf das Bild, um beide Bilder und Beschriftungen zu sehen.