Forschungsthemen

Vermessung eines Sedimentkerns aus dem Crawford Lake, Kanada. Foto: Tim Patterson © All Rights Reserved.

Nr 81
Das Anthropozän-Signal: Was die Geologie der Gegenwart für die Zukunft der Forschung bedeutet
Welche Fingerabdrücke des globalen menschlichen Handelns finden sich im geologischen Archiv? Und wie erforschen Geolog*innen eine solche irdische Gegenwart? Derlei Fragen bildeten den Ausgangspunkt für eine wegweisende transdisziplinäre Zusammenarbeit, die in den letzten Jahren die höchst unterschiedlichen Forschungs- und Arbeitsroutinen der Anthropocene Working Group (AWG), dem Haus der Kulturen der Welt (HKW) und dem MPIWG-Forschungscluster Anthropocene Formations eng miteinander verwoben hat. Bereits seit 2012 bestand die Verbindung dieser drei höchst ungewöhnlichen Partner, die in ihrer Kombination aus verschiedenartigen Expertisen völlig neue Forschungspraktiken und diskursive Räume von Wissenschaft und Öffentlichkeit schuf. Im Juli 2023 gibt die AWG auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem MPIWG ihre endgültige Empfehlung für den offiziellen geologischen Referenzpunkt für den Beginn des Anthropozäns bekannt. Mit dem Abschluss dieser gewissermaßen „epochalen” Forschungsarbeit, dem Ende des zehnjährigen Anthropozän-Schwerpunkts am HKW und der Gründung des Max-Planck-Instituts für Geoanthropologie (MPIGEA), welches die Anthropozän-Forschung fest in der Max-Planck-Gesellschaft verankert, lohnt ein kleiner Rückblick auf die stratigraphischen Untersuchungen des anthropozänen Signals und ein Ausblick darauf, was eben dieses für die Zukunft einer engagierten Wissenschaft selbst wiederum signalisiert.

Die Prüfung geologischer Evidenz

Die zentrale Aufgabe der AWG war es, die tatsächliche Existenz des Anthropozäns als eine unverkennbare geologische Zeiteinheit zu bewerten. Die Gruppe wurde 2009 von der Subcommission on Quaternary Stratigraphy (SQS) der International Commission on Stratigraphy (ICS) ins Leben gerufen, einem Gremium, das die wissenschaftlichen Anforderungen und Standards der kontinuierlich stattfindenden Überprüfung und Vervollständigung der geologischen Zeitskala überwacht. Die Erweiterung der 4,5 Milliarden Jahre geologischer Entwicklung umfassenden Zeitskala um eine weitere, allerjüngste Epoche bedeutete für die Arbeitsgruppe nach den rigorosen Maßstäben der Chronostratigraphie und den strengen Protokollarien der ICS vorzugehen. Dies hieß in erster Linie, eine Vielzahl geologischer Proben sorgfältig zu dokumentieren, zu datieren und zu analysieren, um den potenziellen Referenzpunkt für die untere stratigraphische Grenze des Anthropozäns, den so genannten Global boundary Stratotype Section and Point (GSSP), auch „Golden Spike" genannt, zu bestimmen. Die Festlegung eines GSSP ist die formelle Voraussetzung für die offizielle Anerkennung einer neuen geologischen Zeiteinheit: ein markanter Nachweis einer dauerhaften physikalischen, chemischen oder biologischen Veränderung im geologischen Archiv, die weltweit und gleichzeitig stattfand.

Bohrung eines Korallenbohrkerns vom Flinders Reef, Australien. (Video: Thomas DeCarlo © All Rights Reserved).
Für weitere geochemische Analysen werden Mikroproben aus einer Koralle des West Flower Garden Bank Reef, USA, entnommen (Video: Mudith Weerabaddana © All Rights Reserved).

Die bestimmenden Fragen für die AWG waren daher, ob die Erde tatsächlich bereits in eine neue geologische Epoche eingetreten ist, wann genau diese begonnen hat und welche Art von materieller Signatur eine solche deutliche Grenze zwischen der alten und der neuen Erde kennzeichnen würde. Nach eingängigen Diskussionen innerhalb der Gruppe zeichnete sich ab, dass es am erfolgsversprechendsten wäre, ihre Untersuchungen auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zu konzentrieren, einem Zeitraum, in dem die industriellen Aktivitäten des Menschen so ausgeprägt und global messbar wurden, dass man gemeinhin von der „Großen Beschleunigung” spricht. Nachdem das HKW finanzielle Mittel für die notwendigen stratigraphischen Untersuchungen organisiert hatte (wobei die MPG einen Teil der Laboreinrichtungen zur Verfügung stellte), wurde es dann um das Jahr 2018 herum konkret. Die AWG stellte mehrere Forschungsteams aus der ganzen Welt zusammen, die sich auf die Suche nach dem definierenden anthropogenen Signal machten. Hierfür wurden Proben aus einer Reihe von Umweltarchiven – polares Eis, tropische Korallen, Torfmoore, Seesedimente, etc. – auf spezifische, menschengemachte Marker wie künstliche Radionuklide, Verbrennungspartikel, Neobiota und organische Schadstoffe hin untersucht und abgewogen, inwiefern diese die Kriterien für einen GSSP erfüllen könnten. Die Ergebnisse wurden in einem The Anthropocene Review Special Issue veröffentlicht, inklusive eines gemeinsam mit den Projektpartnern von HKW und MPIWG verfassten Nachwortes zur Rolle ihrer Kooperation im Forschungsprozess.

Es gibt in der Geschichte der Geologie wohl kein zweites Beispiel, bei dem eine empirische Analyse unter so großer fachlicher und öffentlicher Beobachtung durchgeführt wurde. Die Chronostratigraphie befasst sich nach ihrer eigenen Definition mit der (mehr oder weniger) tiefen Vergangenheit. Sie hat daher menschliche Aktivitäten stets ausgeschlossen. Was die AWG nun aber unternahm, war eine geologische Analyse des menschlichen Fingerabdrucks im Erdarchiv, der zudem kaum siebzig Jahre alt ist: eine unerhört scheinende „Geologie der Gegenwart”.

Topographic map of the Beppu Bay basin in Southern Japan with the location of one of the GSSP-candidate cores marked.

Topografische Karte der Beppu-Bucht im südlichen Japan mit Markierung der Lage eines der GSSP-Kandidatenbohrkerne. (Grafik: Tsuyoshi Haraguchi © All Rights Reserved).

Jenseits der Stratigraphie: Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen, Künstler*innen

Darüber hinaus sahen sich die „Geolog*innen der Gegenwart” auch weiterem Druck von außerhalb ihres eigenen Berufsstandes ausgesetzt. Als konzeptionelle Intervention und gewählter Schlüsselbegriff des gegenwärtigen erd- und menschheitsgeschichten Moments umfasst das Anthropozän jedoch bereits viel mehr als die Bestätigung einer Epoche mittels der tradierten Standards der Chronostratigraphie. Mit seiner weiten Verbreitung in akademischen, künstlerischen und medialen Kreisen ist das Anthropozän längst zu einer Metakategorie für die vielfältigen Krisen geworden, mit denen Menschen und Nicht-Menschen heute konfrontiert sind, einschließlich der historischen Ursprünge dieser Krisen und der ungerechten Verteilung ihrer Auswirkungen. Kurzum: Das Anthropozän ist zu einem Anziehungspunkt für weitreichende intellektuelle und politische Debatten geworden. Dahinter verbirgt sich ein grundlegender Wandel in der Wahrnehmung menschlichen Handelns, der neue Formen der Vernetzung und Integration unterschiedlicher Erkenntnisweisen erfordert.

AWG members Francine McCarthy and Mark Williams discuss a GSSP-candidate core from Crawford Lake with historian of science Michelle Murphy at HKW in May 2022.

Die AWG-Mitglieder Francine McCarthy (rechts) und Mark Williams (links) diskutieren mit der Wissenschaftshistorikerin Michelle Murphy im Mai 2022 einen GSSP-Kandidatenkern aus dem Crawford Lake (Foto: Katy Otto/HKW).

Bereits seit 2012 arbeiten MPIWG und HKW mit der AWG sowie Hunderten von weiteren Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen aus der ganzen Welt zusammen, um die Herkünfte, Implikationen und Querverbindungen des Anthropozänwissens auf explorative Weise zu ergründen. Das Vermächtnis dieser ungewöhnlichen Kollaboration wird durch die Vielzahl von Projekten, Stimmen und Ergebnissen repräsentiert, die auf der gemeinsamen Plattform anthropocene-curriculum.org gesammelt wurden, einem Projektraum des gemeinsamen Lernens, in dem die Verbindung von geologischer Evidenz und kulturellem Experiment zu vielfältigen Formen und Formaten geführt hat. Seit Januar 2023 wird diese Plattform vom MPIWG als öffentliches Repositorium weiter gepflegt, während das internationale Netzwerk seine Aktivitäten über einen dezentralen, selbstorganisierten Ansatz als Anthropocene Commons fortsetzt.

Poster with notes

Die Arbeit der zwölf Forschungsteams wurde von den Künstler*innen Giulia Bruno und Armin Linke begleitet. Ihre Ausstellung Earth Indices, die aus mehr als 600 kommentierten Metadatenblättern wie dem obigen besteht, schuf selbst ein vielschichtiges Archiv der Anthropozän-GSSP-Untersuchung. © Giulia Bruno & Armin Linke mit HKW und Wissenschaftler*innen der AWG.

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Historische Hinterlassenschaften und zukünftige Verantwortung

Jetzt, da sich die ungewöhnliche Zusammenarbeit nach einem Jahrzehnt dem Ende zuneigt, stellt sich die entscheidende Projektfrage noch einmal neu: Was lehren uns die jüngsten Archive der Erde über die latenten Hinterlassenschaften der industrialisierten Menschheit und ihren zeitlichen Eingriff in eine Zukunft, die bereits begonnen hat? Seit 2012 ist die Welt bereits eine andere geworden. Die Konturen des beginnenden Anthropozäns treten immer deutlicher aus dem Hintergrundrauschen der natürlichen Fluktuationen hervor, Veränderungen die sich bereits jetzt in gewaltigen gesellschaftlichen Konflikten und permanenten Krisenmanagement widerspiegeln. Man kann eine gravierende Diskrepanz zwischen den hochdynamischen Veränderungen des Erdsystems und den trägen Reaktionen traditioneller Institutionen, Wissenssysteme und rechtlicher und politischer Instrumente beobachten. Die Zeitkorridore zur Vermeidung irreversibler Schäden am Wohlergehen des planetarischen Ganzen schließen sich rapide. Verzögerungen ehrgeiziger Maßnahmen – wenn nicht gar deren absichtliche Verhinderung – werden zu Fragen der historischen Verantwortung zwischen Generationen, die vor und nach der Realisierung – und möglichen geologischen Anerkennung – des Anthropozäns geboren wurden. Das Anthropozän erfordert nicht nur, soziale und ökologische Gerechtigkeit zu neuen Prinzipien gemeinschaftlichen Lebens zu machen, sondern auch eine „zeitliche” Gerechtigkeit.

Photo of a reflective cube with the sentence “What damage can be repaired?” written on it in pen

„Welche Schäden können repariert werden?” Fragen wie diese wurden auf der experimentellen Veranstaltung „Where is the Planetary” am HKW im Oktober 2022 diskutiert (Foto: Katy Otto/HKW).

Folglich muss die Aufmerksamkeit nun auf die gesellschaftlichen Notwendigkeiten und möglichen Handlungen gerichtet werden, die der dynamischen Natur der Anthropozän-Signale angemessen sind. Sind wir als menschliche Gemeinschaften strukturell in der Lage, genau das Netz zu knüpfen, das uns von der Evidenz zu den technologischen, aber auch zu den sozialen Innovationen führt, die dazu beitragen werden, die Krise der Erde zumindest zu verlangsamen? Verstehen wir das Erbe des zwanzigsten Jahrhunderts und den von der AWG so akribisch untersuchten stratigraphischen Niederschlag des Anbeginns der Großen Beschleunigung, um diese unheilvolle Entwicklung aufzuhalten und die vielfältigen Krisendynamiken im einundzwanzigsten Jahrhundert in Schach zu halten? Wie die transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen AWG, HKW und MPIWG gezeigt hat, sind Forschungszusammenhänge, die ehemals getrennte Wissensbereiche und Alltagsroutinen miteinander verbinden, möglicherweise besser geeignet, um auf diese Herausforderungen zu reagieren.

Viele Forschende der AWG, des MPIWG und des neuen MPIGEA, sowie das globale Anthropocene-Commons-Netzwerk, zu dem auch ehemalige leitende Teammitglieder des HKW gehören, werden sich weiterhin für eine solche transdisziplinäre Anthropozän-Forschung engagieren.

 Earth IndicesE&E