Forschungsthemen

Abb. 1: Freiburger Labor (Bildnachweis).

Nr 3
Vielsagende Instrumente
Henning Schmidgen untersucht die Laboratorien des deutschen Physiologen und Psychologen Hugo Münsterbrg in Freiburg und Harvard zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Neue Instrumente begünstigten den Aufstieg von neuen wissenschaftlichen Fakten.

Neue Instrumente begünstigen die Entstehung neuer wissenschaftlicher Tatsachen. Aber nicht nur deswegen sind sie wichtige Gegenstände wissenschaftshistorischer Arbeit. Zugleich verbindet sich über die Instrumente das Geschehen in der Abgeschiedenheit des Labors mit der übergreifenden Geschichte von Kultur und Technik. Will man beiden Gesichtspunkten gerecht werden, ist der Umgang mit einer Vielfalt von Quellen gefragt: von wissenschaftlichen Aufsätzen über Instrumentenkataloge bis hin zu Photographien und Museumsstücken. Das Forschungsprojekt „Die Experimentalisierung des Lebens“ (Abteilung III) hat für diesen Zweck ein „Virtuelles Labor“ im Internet eingerichtet. Es ermöglicht die digitale Sammlung, Verknüpfung, Auswertung und Veröffentlichung unterschiedlichster Arten von Dokumenten. Eine neue Fallstudie verdeutlicht, wie in dieser Umgebung Originalphotographien von Instrumenten ausgewertet werden können, die der Physiologe und Psychologe Hugo Münsterberg (1863-1916) in seinen Laboratorien in Freiburg und Harvard benutzte, um ein neues Forschungsprogramm zu realisieren.

Hugo Münsterberg (1863-1916) ist vor allem als Pionier der Angewandten Psychologie bekannt. Noch um 1900 versuchte die Mehrzahl der Psychologen, den Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens innerhalb des Labors auf die Spur zu kommen. Münsterberg war einer der ersten, die den Schritt vom Experiment in die Gesellschaft wagten. Damit ist er eine Schlüsselfigur für die „Experimentalisierung des Lebens“, die seit Mitte des 19. Jahrhundert im Gefolge der Physiologie immer weitere Disziplinen erfaßte (Psychologie, Linguistik, Ästhetik usw.), um schließlich auch auf andere kulturelle Bereiche überzugreifen (Literatur, Bildende Kunst, Musik usw.). Tatsächlich plädierte der Harvard-Professor seit der Jahrhundertwende in zahlreichen Veröffentlichungen für die Anwendung der Erkenntnisse und Praktiken psychologischer Laborwissenschaft auf das Wirtschaftsleben, die Rechtsprechung, das Schulwesen und die Kunst.

Weniger bekannt ist Münsterbergs Rolle als kreativer Experimentator und dynamischer Labordirektor: 1889 gründete er aus eigenen Mitteln in Freiburg eines der ersten psychologischen Laboratorien im deutschsprachigen Raum. Wenig später wurde er für drei Jahre als Gastprofessor und Laborleiter an die Harvard Universität berufen, um – nach einem kurzen Intermezzo in heimischen Gefilden – 1897 an eben diese Universität zurückzukehren, an der er bis zu seinem Lebensende tätig sein sollte. Doch schon am Anfang von Münsterbergs Laufbahn zeichnete sich ab, daß sein Verständnis von psychologischer Wissenschaft sehr viel umfassender und ausgreifender war als das der meisten akademischen Psychologen im deutschsprachigen Raum.

An der Einrichtung und Ausstattung der von ihm geleiteten Laboratorien lässt sich dies auf exemplarische Weise verdeutlichen. Zeitgenössische Photographien zeigen die materielle Kultur dieser Forschungseinrichtungen: Auf einem Photo von 1891 posiert Münsterberg mit den Studenten und Instrumenten seines Freiburger Labors; zwei Jahre später, 1893, entstanden insgesamt acht Aufnahmen, die die Instrumente und Experimente in seinem Labor in Harvard zeigen. Obwohl diese Photographien zum Teil bereits veröffentlicht wurden, lohnt sich auch hier der Rückgang aufs Original: Erst die noch heute erhaltenen Originalabzüge lassen sich digital so hoch auflösen, daß die genaue Identifizierung einzelner Instrumente möglich wird.

Um die Bedeutung dieser Instrumente genauer erschließen zu können, werden diese stummen Zeugen innerhalb des Virtuellen Labors mit entsprechenden Abbildungen aus historischen Instrumentenkatalogen und Lehrbüchern verlinkt, die Aufschluss über Herkunft, Verwendungszweck und Handhabung bieten. Deutlich wird dabei zum einen, dass Münsterberg eng mit einem Präzisionsmechaniker kooperierte, der die Instrumente nach seinen Vorgaben anfertigte: Hermann Elbs. Dieser stellte neben den Laborgerätschaften für Münsterberg auch Messinstrumente für den Eisenbahnbau her – eine Verkehrstechnologie, für die sich Münsterberg alsbald aus Sicht der Angewandten Psychologie interessieren sollte, u.a. durch die Eignungsprüfung von Lokführern. Zum anderen kann an den Instrumenten die Entwicklung einer neuen psychologischen Programmatik buchstäblich dingfest gemacht werden: So verzichtete Münsterberg bewusst auf den Einsatz der Standardwerkzeuge der damals etablierten Psychologie, die vor allem auf die Untersuchung kognitiver Prozesse ausgerichtet war. Mit Hilfe neuartiger „Muskelsinn“- und „Augenmassapparate“ rückte er die Erforschung „peripherer“, also muskulärer und nervöser Prozesse in den Mittelpunkt seiner Labortätigkeit.

Ein Teil von Münsterbergs Instrumenten ist bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Entsprechende Links führen vom Virtuellen Labor zu der ebenfalls im Internet präsentierten Instrumentensammlung des Department of the History of Science an der Harvard-Universität. Erst die Zusammenschau dieser unterschiedlichen Arten von Quellen – von den flachen Photographien bis hin zu den massiven Museumsdingen –, erlaubt es, die Instrumente „zum Sprechen zu bringen“ und dadurch begreifbar zu machen, wie ihre materielle Kultur zur Entstehung neuer wissenschaftlicher Tatsachen beiträgt.