Forschungsthemen

Abb. 1: Stereoskopische Aufnahme eines ,verkabelten‘ Pianisten, Moskau 1925, mit freundlicher Genehmigung von Andrei Smirnov.

Nr 6
Physiologie des Klaviers
Julia Kursell untersucht, warum der Moskauer Neurophysiologe Nikolai Bernstein Klaviervirtuosen ins Labor geholt hat.

Das Klavier wird um 1900 zu einem Schauplatz wissenschaftlicher Experimente. Gegenstand dieser Experimente ist nicht sein Klang, sondern der Mensch, der Klavier spielt. Experimentalphysiologen untersuchen die Muskelspannung, den Stoffwechsel und die Körperhaltung des Menschen, und sie wenden sich dabei auch einer der populärsten Betätigungen dieser Zeit zu: dem Klavierspiel. Das Klavier hatte im 19. Jahrhundert eine beispiellose Karriere angetreten. Klaviervirtuosen werden in den Konzertsälen bejubelt; das Klavier wird Inbegriff einer bürgerlichen Musikkultur; es ist Arbeitsinstrument der Komponisten und Lehrmittel an den Konservatorien. Auch der russische Neurowissenschaftler Nikolai Bernstein erkennt im Klavierspiel einen geradezu idealen Forschungsgegenstand. Wie das Beispiel seiner Forschung zeigt, ist das Klavierspiel zugleich ein ästhetischer Gegenstand und ein Schauplatz, auf dem ein Wissen vom Körper ausgebildet wird.

Bernstein erforscht am Staatlichen Institut für Musikwissenschaft in Moskau die Bewegungssteuerung im Klavierspiel. Sein Interesse gilt dem virtuosen Spiel. Der Virtuose beherrscht das Spiel der parallelen Oktaven, die Franz Liszt in die Klaviertechnik eingeführt hatte. Der Klavierpädagogik gelingt es hingegen nicht, den Schülern das Spiel der parallelen Oktaven beizubringen. Sie lehrte, die Bewegungen des Klavierspiels in langsamem Tempo zu erlernen, um später die korrekt erlernte Ausführung zu beschleunigen. Wer diese Anweisung befolgt, klagt jedoch bald über Beschwerden. Schnelle parallele Oktaven gelingen nicht jedem: Sie sind riskant, laut, gut sichtbar und werden geradezu zum Markenzeichen des echten Virtuosen. Tschaikowsky wird den Einsatz paralleler Oktaven im letzten Satz seines Klavierkonzerts in b-Moll fast wie einen Auftritt im Zirkus inszenieren.

Bernstein, der in Moskau zunächst am Zentralinstitut für Arbeit die Abteilung für Biomechanik leitet, wird 1926 an das Staatliche Institut für Musikwissenschaft eingeladen, um das Rätsel des Oktavenspiels zu lösen. Gemeinsam mit den Mitarbeitern der klavierpädagogischen Sektion des Instituts entwickelt er eine Aufzeichnungsmethode, die auch die kleinteiligen Bewegungen des Oktavenspiels zu erfassen vermag. Die entscheidende Neuerung, mit der sie ihren Aufzeichnungsapparat ausrüsten, besteht in einem gleichmäßig bewegten Celluloidfilm, auf dem sich am Arm des Pianisten befestigte Lämpchen als Kurve abzeichnen. Den zeitlichen Verlauf der Bewegung markiert eine vor dem Kameraobjektiv rotierende durchbrochene Scheibe, die den Lichteinfall der Lämpchen in regelmäßigen Abständen unterbricht.

Die so erhaltenen Kurven werden dann mit Hilfe mathematischer Analysen genauer untersucht. Sie ergeben, dass die schnellen parallelen Oktaven auf einer erzwungenen Schwingung beruhen, die nur im schnellen Tempo gelingen kann. Die Hand beginnt dann wie ein einfaches Pendel zu schwingen. Diese Bewegungsökonomie kann jedoch nur dann erzielt werden, wenn der Pianist die Bewegung nicht bewusst steuert, sondern die Hand sich selbst überlässt.

Bernstein wendet seine Methode der Aufzeichnung und Entzifferung von Bewegungen später in der Erforschung von Rückkopplungsmechanismen in der Bewegungssteuerung an. Für seine Forschungen, die unter anderem in der Prothesenmedizin und in der Sportmedizin Anwendung fanden, wird er mit einem Stalinpreis ausgezeichnet. Als 1950 Pawlows Lehre vom Reflexbogen zur sowjetischen Doktrin erhoben wird, ist Bernstein jedoch Repressalien ausgesetzt. Er erhält Arbeitsverbot und wird erst kurz vor seinem Tod im Jahr 1966 offiziell rehabilitiert.

Die Untersuchung der Zusammenhänge von Musikästhetik und Experimentalwissenschaft bilden einen Schwerpunkt im Programm des Dilthey-Fellowships „Epistemologie des Hörens 1850-2000“. Die Forschungen am Staatlichen Institut für Musikwissenschaft in Moskau stehen im Mittelpunkt des Teilprojekts „Experimentalisierung des Hörens: Moskau 1920-1930“. In den zahlreichen Institutsneugründungen in der frühen Sowjetunion wurde über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren in beispielloser Konsequenz die experimentelle Erforschung ästhetischer Fragestellungen umgesetzt, die schon zuvor von den Künstlern und Theoretikern der Avantgarde eingefordert worden war. Fragen wie die Tonhöhen- und Rhythmuswahrnehmung, musikalische Begabung und absolutes Gehör, Gesangs- und Klavierpädagogik standen auf dem Programm des musikwissenschaftlichen Instituts.

Konstellationen von Wissen und Ästhetik, wie sie sich in Bernsteins Arbeit zum Klavierspiel zeigen, sind nach wie vor für Künstler und Wissenschaftler von großem Interesse. Die Klaviermusik liefert bis heute der Experimentalwissenschaft neue Forschungsgegenstände und die Wissenschaft dient Musikern und Komponisten zur Inspiration. Eine Veranstaltungsreihe am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte präsentiert diese Zusammenhänge einer interessierten Öffentlichkeit. Unter dem Titel „Physiologie des Klaviers – Vorträge und Konzerte zur Wissenschaftsgeschichte der Musik“ fanden bereits zwei Veranstaltungszyklen statt. Zu Wort kommen neben Wissenschaftshistorikern und Musikwissenschaftlern auch Komponisten, Mediziner, Pädagogen, Philosophen und natürlich die Pianisten selbst. Am Beispiel von Klaviermusik von Johann Sebastian Bach und Frédéric Chopin bis John Cage und Marco Stroppa wurden die Verschränkungen von Akustik, Psychologie, Motorik und Ästhetik diskutiert. Am 13. Mai 2009 wird der Schweizer Komponist Edu Haubensak seine Kompositionen für alternative Stimmungssysteme vorstellen, begleitet von einem Vortrag des Musikwissenschaftlers Wolfgang Auhagen zum Thema der Instrumentalstimmung. Ein weiterer Abend am 10. Juni 2009 ist dem Thema des Übens gewidmet, das der Musikmediziner Hans-Christian Jabusch und die Pianistin Ragna Schirmer gemeinsam in Wort und Klang erläutern.