Die gegenwärtigen Globalisierungsprozesse werden hauptsächlich als ökonomische Prozesse der Globalisierung der Warenmärkte, des Kapitals und der Arbeit verstanden, während die globale Ausbreitung von technischen Innovationen und von Wissensbeständen häufig als bloße Konsequenz aus ökonomischen, politischen und kulturellen Prozessen angesehen wird. Allerdings ist Globalisierung kein reines Gegenwartsphänomen: Sie kann vielmehr als Ergebnis historischer Entwicklungen aufgefasst werden, die mit ihrer jeweils eigentümlichen Konstellation wirtschaftlicher, politischer, technischer, kultureller und sozialer Kohäsion bereits alle für moderne Globalisierungsprozesse typischen Dimensionen enthalten. „Die Globalisierung des Wissens und ihre Konsequenzen“, ein Forschungsprojekt der Abteilung I, hat sich zur Aufgabe gemacht, diese Prozesse mittels Konzepten der historischen Epistemologie zu erklären. Die ersten Ergebnisse werden in dem kürzlich erschienenen Band The Globalization of Knowledge in History vorgestellt, der diese Untersuchungen nach Maßgabe der globalen Forderungen nach freiem Zugang zu wissenschaftlichen Informationen verbreiten soll.
Globalisierungsprozesse erfassen Völker an unterschiedlichen geografischen Orten, deren Ideen, Wissen und Techniken sich auf den verschiedensten Wegen über große Entfernungen verbreiten. Solche Verbindungen über weite Strecken und sogar über Kontinente hinweg und die damit einhergehende Verbreitung von Wissen sind so alt wie die Menschheit selbst. Sie traten jedoch während des größten Teils der menschlichen Geschichte nur zufällig und vereinzelt auf. Erst in den letzten ein bis zwei Jahrhunderten haben solche Verbindungen die Form eines kontinuierlichen, systematischen und selbstverstärkenden Austauschs von Wissen angenommen, der zunehmend zu einer Bedingung für das Überleben der Menschheit wird. Es hat also eine epistemische Entwicklung eingesetzt, im Zuge derer Veränderungen in der menschlichen Gemeinschaft durch die Generierung von Wissen angetrieben werden. Das Projekt Die Globalisierung des Wissens und ihre Konsequenzen wurde 2007 bei der 97. Dahlem Konferenz als interdisziplinäre Kooperation ins Leben gerufen und hat eine systematische Erforschung der Globalisierung des Wissens durch vergleichende empirische Untersuchungen zum Ziel.
Es hat sich gezeigt, dass die Globalisierung des Wissens nicht nur ein relativ unabhängiger Prozess ist, sondern alle anderen Globalisierungsprozesse grundlegend beeinflusst, indem sie die Identität ihrer Akteure ebenso wie die ihrer Kritiker prägt. Erziehung und Bildung zum Beispiel werden häufig sowohl als Voraussetzung für Globalisierungsprozesse wie auch als ihre Konsequenz betrachtet, doch die Übermittlung von Wissen durch Erziehung und Bildung ist nur eine – und nicht unbedingt die entscheidende – Form sozialer Interaktion, die die Entwicklung und Verbreitung von Wissen bestimmt. In der Vergangenheit wurden Phasen intensiver Globalisierung durch Probleme wie schwankende Bevölkerungsdichte, Nahrungsmittelknappheit, sich verändernde ökologische Bedingungen, das Aufkommen neuen Wissens und neuer Technologien oder durch Veränderungen ökonomischer und politischer Machtstrukturen angestoßen. Eine wichtige Aufgabe einer Geschichte der Globalisierung des Wissens ist es, die Bestände geteilten Wissens zu identifizieren, die während solcher Phasen intensiver Globalisierung für die entsprechenden Verbreitungs- und Transformationsprozesse ausschlaggebend waren.
Die Übermittlung von Wissen findet in einem epistemischen Netz statt, in dem die Knoten die Besitzer oder potenziellen Besitzer von Wissen bilden – zum Beispiel Einzelpersonen, Gruppen von Handwerkern oder wissenschaftliche Gemeinschaften –, während die Verbindungen die Strecken darstellen, die das Wissen zurücklegen muss, um von einem Knoten zum anderen zu gelangen.
Epistemische Netze sind keine zufälligen Netzwerke, sondern besitzen eine Topologie, in der bestimmte Knoten – sogenannte Hubs – besonders wichtig sind, weil sie mit vielen anderen Knoten verbunden sind. Die innere Dynamik der Wissensentwicklung ist durch die Wechselwirkung zwischen Wissensformen und den Strukturen ihrer Darstellung gekennzeichnet. Diese stößt Reflexionsprozesse an, die zu einer zunehmend komplexeren Architektur des Wissens führen. Die äußere Dynamik wird von einem Zusammenspiel epistemischer, ökologischer, kultureller, ökonomischer und politischer Faktoren bestimmt.
Die Erforschung der Konsequenzen einer Umstrukturierung eines bestehenden Wissenssystems in einem bestimmten sozialen und kulturellen Kontext – zum Beispiel im europäischen Kontext die Entstehung des aristotelischen Wissenssystems und seine anschließende Transformation zu moderner Wissenschaft in der frühen Neuzeit – kann innere Entwicklungen aufdecken. Als Beispiel für eine von außen angestoßene Entwicklung kann der Transfer eines bestehenden Wissenssystems in ein neues natürliches und kulturelles Umfeld durch Kolonialisierungsprozesse dienen, wie etwa die Verbreitung des Aristotelismus durch Missionierung und Bildungsmaßnahmen. Innere und von außen angeregte Entwicklungen können eng miteinander verflochten sein. Ihre Beziehung wird in einem neuen Forschungsprojekt „Die Verbreitung des Aristotelismus“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte erforscht, das im August 2012 seine Arbeit aufgenommen hat und Teil des Globalisierungsprojekts ist. In Zusammenarbeit mit dem Exzellenzcluster Topoi wird den verschiedenen Aspekten des Wissenssystems, das als Aristotelismus bekannt ist, nachgegangen, indem sein Wandel, seine Verbreitung und seine Aneignung untersucht werden. Ebenfalls im Rahmen des übergeordneten Globalisierungsprojekts fand vor kurzem eine Gesprächsreihe zum Globalen Wissenstransfer statt. An vier Abenden wurde über die Übersetzung als Mechanismus des globalen Wissenstransfers und über die Rolle, die Personen, Institutionen und Systeme im Austausch von Wissen spielen, diskutiert.
Entsprechend der Verpflichtung der Max-Planck-Gesellschaft, Forschungsergebnisse frei zugänglich zu machen, wurden die Ergebnisse der Untersuchungen in der Edition Open Access veröffentlicht. Dabei ging es nicht nur darum, die Erkenntnisse so weit wie möglich zu verbreiten, sondern auch darum, Open-Access-Publikationen als Instrument der Zusammenarbeit zu nutzen und sich für den globalen Wissensaustausch, der nicht von einer engen Auslegung der Rechte an geistigem Eigentum eingeschränkt wird, einzusetzen. Der Band erscheint auf einer Plattform mit verwandten Untersuchungen und dokumentiert ein noch nicht abgeschlossenes Forschungsprojekt; er lädt andere Wissenschaftler dazu ein, sich an der laufenden Arbeit und an den Diskussionen über die Globalisierung des Wissens in der Geschichte zu beteiligen.