Forschungsthemen
Nr 12
Kants naturtheoretische Begriffe
Wolfgang Lefèvre hat eine neue Datenbank zu den expliziten und impliziten Begriffsverbindung in Kants Naturphilosophie entwickelt.

Philosophen kennen die entscheidende Bedeutung, welche die Naturtheorie Kants für seine kritische Philosophie hatte. Wissenschaftshistoriker betrachten seine Hypothese über die Entstehung unseres Planetensystems sowie seinen als-ob-teleologischen Organismusbegriff als Meilensteine in der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Darüber hinaus erweisen sich Kants naturtheoretische Arbeiten als ein überaus erhellender Spiegel der Naturwissenschaften seiner Zeit, insbesondere dann, wenn man die expliziten und impliziten Vernetzungen ihrer Begriffe wahrnimmt.

Die Darstellung dieser Vernetzungen stellt eine Herausforderung dar, und zwar nicht nur hinsichtlich der erforderlichen historischen Arbeit, sondern ebenso hinsichtlich einer angemessenen Darstellungsform. Die von Wolfgang Lefèvre und Falk Wunderlich erstellte Datenbank „Kants naturtheoretische Begriffe“ präsentiert eine solche Darstellung. Sie ist kein Index, sondern eine Wiedergabe von Begriffsvernetzungen, die zugleich ein Forschungsinstrument darstellt.

1. Explizite und implizite Begriffsvernetzungen: Hinsichtlich begrifflicher Vernetzungen wird zwischen expliziten und impliziten Zusammenhängen unter den Begriffen unterschieden, die ein Wissenschaftler oder Philosoph verwendet. Unter expliziten Zusammenhängen zwischen Begriffen versteht man dabei diejenigen, mit denen der Autor expressis verbis argumentiert, indem er sie zum Beispiel in Definitionen fixiert, mit ihrer Hilfe Schlüsse durchführt oder sie in weniger formalen Beweisgängen und Begründungen zum Einsatz bringt. Interpreten vergewissern sich dieser expliziten Zusammenhänge durch die Rekonstruktion der Gedankengänge, die der Autor zu Papier brachte.

Die impliziten Zusammenhänge zwischen Begriffen kommen ursprünglich von dem Netzwerk her, in dem die Begriffe in der Kultur gegeben sind, der der Autor angehört. Es ist unmöglich, einzelne Begriffe isoliert zu erwerben, und so konnte auch der Autor sie nur in ihrer kulturell vorgegebenen Vernetzung sich aneignen, wenn auch in einer für ihn charakteristischen Weise. Einen großen, wenn nicht sogar den größten Teil dieser vorgefundenen wie zugleich sich zu eigen gemachten Begriffsvernetzungen verwendet er stillschweigend, sei es weil sie ihm selbstverständlich erscheinen, sei es weil sie vielleicht nicht einmal Gegenstand seiner Aufmerksamkeit geworden sind. Diese impliziten Begriffsvernetzungen lassen sich nicht allein durch die immanenten Verfahren nachweisen, mit denen man Dokumente interpretiert; vielmehr muss die Verwendung der Begriffe im kulturellen Kontext systematisch in diese Analysen einbezogen werden.

Das komplexe Netzwerk unter den Begriffen, in dem sie in einer Kultur gegeben sind, stellt jedoch kein konsistentes Ganzes dar, und es müssen noch nicht einmal all seine Teile miteinander kompatibel sein. Deswegen entspringt aus den impliziten Begriffsvernetzungen eines Autors auch nicht notwendig eine durch und durch konsistente Gedankenwelt. Und dies gilt selbst für Kant, unbeschadet seines berühmten „Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“. Aber auch wenn nicht durchgängig konsistent, bilden die expliziten und die impliziten Begriffsnetze eines Wissenschaftlers oder Philosophen eine Einheit. Die expliziten sind in die impliziten eingebettet, und die impliziten werden durch jede Entwicklung der expliziten verändert, was zugleich beinhaltet, dass es sich um eine Totalität handelt, die einer Entwicklung unterworfen ist.

Die expliziten und die impliziten Begriffsnetze stellen darüber hinaus auch für den Interpreten eine Einheit dar. Wenn man, wie im vorliegenden Fall, das naturtheoretische Gedankengebäude Kants studiert, so ist es unmöglich, die expliziten Vernetzungen der Begriffe angemessen zu fassen, ohne die impliziten, wenn schon nicht vollständig – das ist unmöglich –, so doch jedenfalls weitreichend zu rekonstruieren; und das Umgekehrte gilt selbstverständlich genauso.

2. Darstellungsform: Aus dem Bisherigen ergeben sich verschiedene Anforderungen an die Darstellung dieser Totalität, von denen wenigstens drei prinzipielle namhaft gemacht werden sollen.

a) Da es sich bei den impliziten Zusammenhängen unter Kants naturtheoretischen Begriffen um Begriffsvernetzungen handelt, die ihm zwar spezifisch angehören, die er aber zugleich in seiner Kultur vorfand, können sie nicht allein immanent dargestellt werden. Die Vernetzungen unter diesen Begriffen bei Kant sind gerade vor ihren Vernetzungen in den zeitgenössischen Naturwissenschaften zu profilieren.

b) Die Totalität expliziter und impliziter Vernetzungen unter Kants naturtheoretischen Begriffen darf nicht wie eine zwar ungeschriebene, aber im Prinzip ausgebildete, umfassende Naturtheorie dargestellt werden, die den veröffentlichten Darlegungen zu verschiedenen Themen zugrunde liegt. Die Aufgabe und Schwierigkeit besteht vielmehr gerade darin, alles zu vermeiden, was diese Vernetzungen konsistenter aussehen lässt, als sie tatsächlich waren.

c) Eine besondere Herausforderung für die Darstellung bildet die Tatsache, dass die Totalität dieser Vernetzungen nicht abschließend rekonstruiert werden kann. Wir hatten also eine Darstellungsform für die Totalität expliziter und impliziter Vernetzungen unter Kants naturtheoretischen Begriffen zu finden, die mehr Vernetzungen darbietet, als wir, die Autoren, bisher realisiert haben, eine Form der Darstellung, die zugleich als ein Instrument ihrer weiteren Erforschung zu gebrauchen ist.

Mit diesen Anforderungen sind zugleich die wichtigsten Gründe benannt, warum wir die Vernetzungen der naturtheoretischen Begriffe Kants nicht in einer Monographie, sondern in einer Datenbank darzustellen versuchen. Es ist paradoxer Weise die atomistische Vereinzelung, welche die Begriffe in einer Datenbank erleiden, die die besten Voraussetzungen schafft, ihre multiplen Vernetzungen hinreichend komplex und vor allem flexibel darzustellen. Und es sind die Such- und Sortierfunktionen einer elektronischen Datenbank, die konkurrenzlose Zugangsmöglichkeiten zu dieser Darstellung zur Verfügung stellen.

3. Die Darstellung von Begriffsvernetzungen in der Datenbank „Begriffe“: Um sowohl einfache wie zusammengesetzte Begriffe aufnehmen zu können, verfügt jeder Datensatz über drei Kategorien, unter denen ein Terminus Kants eingetragen sein kann – die Kategorien Begriff, Spezifikation 1 und Spezifikation 2. Als Beispiel diene der Begriff „Exzentrizität der Jupiterbahn“, der wie folgt aufgenommen wurde:

Auf diese Weise ergeben sich allein durch die vorgegebene alphabetische Sortierung der Datensätze Listen von zusammengehörigen Begriffen. Siehe zum Beispiel die Liste der zusammengesetzten Begriffen zum Hauptbegriff „Materie“.

Im Prinzip kann nun aber jeder Terminus unter jede der drei Kategorien gehören, also als Oberbegriff mit oder ohne Spezifikationen und/oder als Spezifikation anderer Begriffe begegnen. Die Liste aller Datensätze, in denen ein Begriff in einer der drei Kategorien erscheint, zeigt ein weiteres Netz wechselseitiger Beziehungen unter Begriffen. Siehe z.B. die Liste der Begriffe, in denen der Begriff „Welle“ ein Bestandteil ist.

In diesen verschiedenen wechselseitigen Stellungen der Begriffe zueinander werden ebenso viele implizite Beziehungsnetze unter ihnen sichtbar. Ein Mittel, explizite Netze darzustellen, sind die auf den Datensätzen gegebenen Verweisen auf synonyme, antonyme oder verwandte Begriffe.

Darüber hinaus finden sich auf den Begriffsdatensätzen Informationen, die die Begriffe in ihren Kontext stellen sollen — zunächst in ihren Kontext bei Kant selbst. In einer Kategorie Zitate werden wo immer möglich Stellen aus Kants Schriften zitiert, die für das Verständnis des fraglichen Begriffs hilfreich sind, sei es, was äußerst selten vorkommt, weil es sich um mehr oder minder förmliche Definitionen handelt, sei es weil in ihnen die Verwendung oder die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs erkennbar werden. Auf jedem Begriffsdatensatz befindet sich ferner die Kategorie Schriften, unter der aufgeführt ist, in welchen der einbezogenen Schriften der fragliche Begriff begegnet. Dies gibt oftmals auch einen Hinweis über den Zeithorizont, in dem Kant diesen Begriff verwandte.

Auf vielen Begriffsdatensätzen erscheint ferner eine Kategorie Glossar. Die dort gegebenen Erläuterungen, Kommentare und historischen Skizzen verfolgen in erster Linie den Zweck, den Begriffsgebrauch Kants vor dem (denen) der zeitgenössischen Naturwissenschaften zu verorten und zu profilieren. Die Einträge sind in der Regel kurz und im Stil von Lexikonartikeln gehalten. Gleichwohl wird wohl niemand verkennen, dass er es bei diesen Einträgen mit dem Kernstück unserer Interpretationsarbeit zu tun hat.

Um Wiederholungen zu vermeiden und um die zu vermittelnden Informationen nicht unnötig zu zersplittern, bot es sich dabei oftmals an, für eine ganze Gruppe zusammengehöriger Begriffen diesen historischen Kontext in das Glossar eines dieser Begriffe einzutragen und bei den anderen lediglich darauf zu verweisen. Dadurch werden zugleich auf eine weitere Weise Begriffszusammenhänge sichtbar gemacht.

Die Datenbank „Begriffe“ ist verknüpft mit drei weiteren Datenbanken: der Datenbank „Personen“, die Informationen über die von Kant in den einbezogenen Schriften erwähnten Personen enthält, der Datenbank „Literatur“, die insbesondere die relevante zeitgenössische Literatur zu erschließen versucht, sowie der Datenbank „Kant-Texte“, die Zugriff auf und Suchen in den herangezogenen Kanttexten ermöglicht.