Forschungsthemen

„Tribuna di Galileo“ (Sezione di Zoologica „La Specola“ del Museo di Storia Naturale dell'Università degli Studi di Firenze), Foto: Saulo Bambi – Museo di Storia Naturale/Firenze

Nr 10
Galilei und die Anderen
Aus Anlass des Jubiläums von Galileis Entdeckung der Satelliten Jupiters erscheint ein Sonderheft von „Sterne und Weltraum” mit Beiträgen von MPIWG-Historikern.

Vor vierhundert Jahren sah zum ersten Mal ein Mensch den Himmel durch ein Fernrohr – vor vierzig Jahren betrat zum ersten Mal ein Mensch einen fremden Himmelskörper. Von den frühesten Beobachtungen der Regelmäßigkeiten der Himmelsbewegung über die Entwicklung der Astronomie bis zur Raumfahrt ist der Weltraum ein Teil unserer Erfahrungswelt geworden. Die astronomischen Beobachtungen und andere wissenschaftliche Leistungen Galileo Galileis und seiner Zeitgenossen trugen dazu bei, dass im 17. Jahrhundert ein neues Weltbild entstand. Demnach ruht die Erde nicht mehr im Zentrum des Weltalls, sondern kreist als Planet unter Planeten um die Sonne, demnach ist das irdische und das himmlische Geschehen den gleichen physikalischen Gesetzen unterworfen, und demnach war es denkbar geworden, dass auch die Fixsterne ferne Sonnen sind, umkreist von Planeten, und dass es Leben auf anderen Gestirnen gibt. Die historischen Hintergründe, die Kontexte und die Konsequenzen dieser epochalen Wende zu erläutern, ist das Ziel eines Projekts des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte und der Zeitschrift Sterne und Weltraum, für das Galileis Entscheidung, das Fernrohr gen Himmel zu richten, vor genau 400 Jahren der Anlass war.

Seit der Antike kamen astronomischen Modellen die Doppelfunktion von Rechenmodellen und Weltbildern zu (Abb.1). Das theoretische und praktische astronomische Wissen der Antike wurde im islamischen und lateinischen Mittelalter auch im Kontext neuer praktischer Bedürfnisse wie der Richtungsbestimmung nach Mekka, der Astrologie oder der Navigation erweitert und verfeinert, bis schließlich die Möglichkeit entstand, dieses Wissen grundlegend neu zu strukturieren. Kopernikus gelang es Mitte des 16. Jahrhunderts, das immer komplexer gewordene Sphärenmodell des Kosmos durch die Annahme zu vereinfachen, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt steht. Seine wissenschaftliche Revolution war das Ergebnis einer Umgestaltung des überlieferten astronomischen Wissens, bei der die empirischen Daten und die Rechentechniken im wesentlichen bewahrt wurden, die Organisationsstruktur des Wissens aber durch die Festlegung eines neuen Zentrums verändert wurde.

Abb. 1: Kosmologie von Aratos von Soloi (* ca. 310/350 v. Chr.; † 245 v. Chr.) in einer Interpretation von Aratos „Phainomena“ des Andreas Cellarius: Harmonia macrocosmica seu Atlas universalis et novus, totius universi creati cosmographiam generalem et novam exhibens, in qua omnium totius mundi Orbium harmonica constructio – ab oculos ponuntur, 1708. Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte.

Das kopernikanischen System wurde aber zugleich zu einer Herausforderung für das durch die katholische Kirche in ihr Dogma aufgenommene geozentrische Weltbild. In diesem Weltbild steht der Mensch auf einer ruhenden Erde im Zentrum des Kosmos, hier spielen sich Geburt und Tod, Werden und Vergehen ab, während im Himmel andere Gesetze walten; hier kreisen in ewiger Bewegung die Gestirne. Dieses Weltbild war im Übrigen auch im Einklang mit den bewährten physikalischen Vorstellungen und Erfahrungen, die ja keinen Hinweis auf eine Bewegung der Erde enthielten, sondern eine solche Hypothese als unplausibel erscheinen ließen. Durch die von der Kirche übernommene aristotelische Naturphilosophie waren diese beiden Herausforderungen, die theologische und die physikalische, eng miteinander verknüpft. Doch solange das heliozentrische System von Kopernikus vor allem als Rechenmodell für die Bewältigung astronomischer Probleme gesehen werden konnte, und damit in seiner Wirkung auf eine bestimmte spezialisierte Wissenssphäre beschränkt war, blieb die Sprengkraft des neuen Systems verborgen. Dies änderte sich erst mit der Erfindung des Teleskops.

Wie genau veränderte die Erfindung des Teleskops unser Weltbild? Neun internationale Wissenschaftshistoriker beantworten diese Frage in einer neuen Ausgabe von Sterne und Weltraum. Giorgio Strano und Matthias Schemmel zeigen erstmals, welches Wissen die Astronomie bereits vor der Erfindung des Fernrohrs angesammelt hatte und welches Potential in diesem Wissen für die Veränderung des Weltbilds lag. Keplers Entdeckung der Ellipsengestalt der Planetenbahnen, die im selben Jahr 1609 publiziert wurde, in dem Galilei das Teleskop zum ersten Mal auf den Himmel gerichtet hatte, beruhte auf den Jahrzehnte währenden Beobachtungen, die Tycho Brahe mit bloßem Auge, einzig unterstützt durch Visier- und Meßinstrumente, angestellt hatte. Auch einige der neuen Phänomene, die Galilei mit seinem Teleskop beobachtete, waren schon lange vorher vermutet oder sogar beobachtet worden, wie etwa die Berge auf dem Mond, über die schon Plutarch spekuliert hatte oder die Sonnenflecken, über die es bereits im Mittelalter Berichte gab, wie Horst Bredekamp ausführt. Sogar das Fernrohr selbst besitzt, wie Sven Dupré deutlich macht, eine lange Vorgeschichte, die bis auf erste optische Experimente und Theorien der Antike zurückgeht, aber auch sehr konkrete Berichte über optische Vergrößerungsinstrumente aus dem 16. Jahrhundert umfasst (Abb.2). Es bleibt allerdings ein wissenschaftshistorisches Rätsel, warum das Fernrohr erst am Anfang des 17. Jahrhunderts ein so relevantes Mittel der wissenschaftlichen Forschung wurde.

Abb. 2: In den Werkstätten der Brillenmacher hatte sich die praktische Erfahrung angesammelt, auf die Galilei für die Herstellung seiner Teleskoplinsen zurückgriff. Diese Darstellung einer solchen Werkstatt ist entnommen aus: Stradanus, „Nova reperta“, 1584. Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte.

Dieses neue naturwissenschaftliche Wissen breitete sich in der Lehre aus, sogar bis nach Asien, wozu jesuitische Gelehrte entscheidend beitrugen; aber zugleich entstand ein Konflikt zwischen Wissenschaft und Kirche. Dieser Konflikt fand in der Verbrennung Giordano Brunos im Jahre 1600 und der Verurteilung Galileis zum Widerruf seiner kopernikanischen Lehren und zum Hausarrest durch die Inquisition im Jahre 1633 einen weithin sichtbaren, die Zeitgenossen erschütternden Ausdruck. Doch war dieser Konflikt, wie Rivka Feldhay und Elio Nenci diskutieren, weniger der Ausgangspunkt der frühneuzeitlichen wissenschaftlichen Revolution als vielmehr ihr Resultat. Dieser Konflikt wurde von der rasanten Dynamik dieser Epoche geschürt, die durch die Vermehrung des Wissens entstanden war.

Diese Dynamik war Teil einer umfassenderen gesellschaftlichen Entwicklung. In der Frühen Neuzeit hatte diese Entwicklung zur Ausbildung einer neuen sozialen Schicht geführt: der Wissenschaftler-Ingenieure. Die Aufgabe dieser Wissenschaftler-Ingenieure bestand darin, die großen technischen Herausforderungen der Zeit, von der Architektur über den Schiffsbau bis zur Artillerie, in Angriff zu nehmen und zu ihrer Bewältigung alle verfügbaren Wissensressourcen zu mobilisieren, sowohl das überlieferte antike Wissen als auch das handwerkliche Wissen ihrer Zeit. Sie waren daher die Akteure einer umfassenden Integration technischen Wissens, in der traditionelle Abgrenzungen überwunden wurden und die herausfordernden Gegenstände der Praxis, wie die Geschossbahn einer Kanonenkugel oder das Problem der Längenbestimmung auf See, in einen direkten Zusammenhang mit dem antiken Erbe theoretischen Wissens gebracht wurde (Abb.3). Matteo Valleriani interpretiert Galilei selbst als einen typischen Vertreter dieser Gruppe von Wissenschaftler-Ingenieuren, der wie andere Zeitgenossen auch eine neue Wissenschaft versprach, die aus aristotelischen Grundlagen erwuchs, sich antiaristotelisch gab, und großen praktischen Nutzen in Aussicht stellte.

Abb. 3: Technische Großprojekte in ganz Europa fördeten die Entwicklung der Ingenieur-wissenschaften und waren ein Motor der Wissenstrasformation. Hier als Beispiel die Aufrichtung des Vatikanischen Obelisken durch den Architekten Domenico Fontana auf dem heutigen Petersplatz im Rom im Jahre 1586. Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte.

Alle Erklärungsversuche von Galileis Erfolgen durch Annahmen, die ihm eine ganz bestimmte wissenschaftliche Methode, einen bestimmten Stil, Strategie oder Fertigkeit zuschreiben, bleiben unbefriedigend. Das Neue an der neuen Wissenschaft, schließt Jürgen Renn, kam nicht von außen, aus einer neuen Idee oder einer neuen Haltung der Natur gegenüber, sondern entwickelte sich inmitten des Alten aus einer Transformation des überlieferten Wissenssystems, die ähnlich wie das kopernikanische System das Ergebnis einer Umorganisation und nicht das einer Aufgabe des traditionellen Wissens war. Wie Jochen Büttner ausführt, waren Galileis physikalische Vorstellungen noch in der aristotelischen Naturphilosophie tief verankert, und aus dieser Transformation ging schließlich die klassische newtonsche Mechanik mit ihrer einheitlichen Erklärung irdischer und himmlischer Bewegungen hervor. Ohne den Blick in das Weltall, so esoterisch das Interesse daran manchem erschienen sein mochte, gäbe es keine moderne Physik mit all ihren technischen Anwendungen.

Autoren: Jürgen Renn (MPIWG), Matthias Schemmel (MPIWG), Jochen Büttner (MPIWG), Sven Dupré (MPIWG Berlin, FU Berlin), Matteo Valleriani (MPIWG), Giorgio Strano (IMSS, Florenz), Horst Bredekamp (HU zu Berlin), Rivka Feldhay (MPIWG, Tel Aviv University), Elio Nenci (MPIWG)