Forschungsthemen

Titelbild: Ein Nachbau der Stuhlwaage von Sanctorius. Vom Frontispiz zu: Overkamp 1694. Nader Verklaringe, over de ontdekte Doorwaasseming, in een dertig-jaarige ondervinding ontdekt op de Weegschaal. Van S. Sanctorius. Amsterdam: Jan ten Hoorn. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB Göttingen).

Nr 56
Sanctorius Sanctorius: Der Beginn der Selbstquantifizierung
In ihrem Promotionsprojekt betrachtet Teresa Hollerbach die Arbeit des Arztes Sanctorius Sanctorius (1561–1636), der Instrumente zum Messen und Quantifizieren von physiologischen Prozessen entwickelte. Das Projekt untersucht Sanctorius’ Arbeit im Rahmen der Entstehung und Etablierung von Quantifizierungsmethoden in den Iatro-Wissenschaften, insbesondere in der iatromechanischen Medizin.

Wie viele Schritte sind Sie heute schon gelaufen? Wie viele Kalorien haben Sie verbraucht? Piept ihre Smartwatch schon wieder, um Sie daran zu erinnern, mal wieder vom Schreibtisch aufzustehen und ein paar Dehnübungen zu machen? Die sogenannte „tragbare Technologie“ ist den meisten von uns in Form von Smartwatches oder Fitness Trackern vertraut und Teil unseres täglichen Lebens geworden. Laut dem Forbes Magazine wird sich der weltweite Markt der tragbaren Technologien in den nächsten Jahren verdoppeln, mit 149,5 Millionen Lieferungen, welche für das Jahr 2021 erwartet sind. Der rasante Aufstieg der Technologie zeigt die Bedeutung von quantitativen Beurteilungen für unsere Gesellschaft, insbesondere in Hinblick auf gesundheitliche Fragen und offenbart wie tief diese in unseren Alltag integriert sind.

Apple Watch

Abb. 1: Apple Watch. Quelle: Wikimedia Commons

Die Tätigkeit der „Selbstquantifizierung“ ist jedoch nicht so neu, wie sie scheint. Tatsächlich können wir ihre Ursprünge bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Zu dieser Zeit entwickelte der Arzt Sanctorius Sanctorius Instrumente (Abb. 2 und 3), um physiologische Prozesse zu messen und zu quantifizieren. Damit führte er quantitative Forschung in die Physiologie ein und legte somit den Grundstein für die Technologie der Selbstvermessung oder Selbstquantifizierung.

Teresa Hollerbach with Pulsilogium and Pulsilogium from De statica medicina Sanctorius

Abb. 2 (links): Nachbau eines Pulsilogiums von Sanctorius, gefunden an der Universität Padua (Biblioteca medica Vincenzo Pinali antica dell'Università degli Studi di Padova). Dieses Instrument dient der Messung der Pulsfrequenz. Die abgebildete Replikation war Teil einer Ausstellung, die 1961 an der Universität von Padua von Loris Premuda organisiert wurde. © Philip Scupin; Lizenz: CC-BY-NC-SA 4.0 International

 

Abb. 3 (rechts): Andere Pulsilogia von Sanctorius. Siehe: Sanctorius Sanctorius (1625), Commentaria in primam Fen primi libri Canonis Avicennae. Venetiis: apud Iacobum Sarcinam, S. 22; 78. Quelle: © British Library Board (General Reference Collection 542.h.11, S. 22; 78).

Historische Darstellungen von Sanctorius und seiner Arbeit neigen dazu die Geschichte eines Genies zu erzählen, das, wie aus heiterem Himmel, eine neue medizinische Wissenschaft erfand und damit die Moderne tiefgreifend beeinflusste. Diese neue Wissenschaft wird als Iatrophysik, Iatromechanik, oder manchmal auch Iatromathematik identifiziert. Dabei handelt es sich keineswegs um klare Kategorien, sondern vielmehr um flexible Benennungen, die retrospektiv für Entwicklungen in medizinischer und naturphilosophischer Forschung eingeführt wurden. Nichtsdestotrotz sind die Begriffe vergleichbar: Sie spiegeln alle die Wichtigkeit von Messung und Quantifizierung in medizinischer Forschung wieder, ebenso wie die Tendenz numerische Werte und mechanische Betrachtungsweisen in diesem Bereich zu verwenden.

 

Das Ziel meines Projektes, „Die Entstehung iatromechanischer Medizin“ ist es, dieses „Genie-Narrativ“ zu hinterfragen und Sanctorius und seine Arbeit in der breiteren Perspektive von Prozessen der Wissenstransformation in der frühneuzeitlichen Medizin zu untersuchen. Konventionell an der Universität von Padua ausgebildet, entwickelte Sanctorius seinen quantitativen Ansatz innerhalb der mathematischen Tradition, die auf die Galenische Medizin zurückgeht, die führende medizinische Autorität dieser Zeit. Anstatt mit dieser Tradition zu brechen, integrierte Sanctorius vielmehr seine neuen Ideen in diesen intellektuellen Rahmen. Das wird am besten durch die Tatsache veranschaulicht, dass er alle seine Instrumente in einem Kommentar zu Avicennas Kanon (Abb. 4) veröffentlichte.

Sanctorius commentaria in primam fen primi libri canonis avicennae

Abb. 4: Sanctorius Sanctorius (1625), Commentaria in primam Fen primi libri Canonis Avicennae. Venetiis: apud Iacobum Sarcinam, S. 305–308. Quelle: © British Library Board (General Reference Collection 542.h.11, pp. 305–308).

Laut Sanctorius war die regelmäßige Beobachtung der körperlichen Ausscheidungen essentiell für das Erhalten der Gesundheit. In Übereinstimmung mit der klassischen Sicht, verstand Sanctorius Gesundheit als ein ideales Gleichgewicht zwischen Aufnahme und Ausscheidung. Das bedeutet, dass die Quantität des eingenommenen Essens der Menge an Flüssigkeiten, die der Körper ausscheidet, entsprechen sollte. Um diese Prozesse zu überwachen entwickelte Sanctorius eine spezielle Stuhlwaage (siehe Abb. 5).

Original Illustration of the Sanctorian Chair, see: Sanctorius Sanctorius (1625): Commentaria in primam Fen primi libri Canonis Avicennae. Venetiis: apud Iacobum Sarcinam, p. 557. Source: © British Library Board (General Reference Collection 542.h.11, p. 557).

Abb. 5: Die Original-Illustration der Stuhlwaage von Sanctorius. Siehe: Sanctorius Sanctorius (1625): Commentaria in primam Fen primi libri Canonis Avicennae. Venetiis: apud Iacobum Sarcinam, S. 557. Quelle: © British Library Board (General Reference Collection 542.h.11, S. 557).

Die Messungen, die Sanctorius durchführte, zeigten, dass ein großer Teil der Ausscheidungen unsichtbar durch die Haut und die Lungen erfolgt. In Anlehnung an die hippokratisch-galenische Lehre verstand Sanctorius diese sogenannte perspiratio insensibilis als eine nicht wahrnehmbare Ausscheidung von Feuchtigkeit, anhand welcher der Körper sich selbst durch die Hautporen von gesundheitsgefährdenden und verunreinigenden Stoffen befreit. Für ihn wurde die Beobachtung der perspiratio insensibilis durch systematisches Wiegen fundamental für die Erhaltung der Gesundheit. Im Jahr 1614 veröffentlichte er die Ergebnisse seiner Wiegeversuche in seinem berühmtesten Buch mit dem Titel Ars [...] de statica medicina (On static medicine). Er beschrieb seine Beobachtungen in Sinnsprüchen, wie dem folgenden (Abb. 6).

Santorio, Santorio; John, Quincy (1712): Medicina statica: Being the aphorisms of Sanctorius. London: ECCO Print Editions, p. 31.

Fig. 6: Santorio, Santorio; John, Quincy (1712): Medicina statica: Being the aphorisms of Sanctorius. London: ECCO Print Editions, p. 31.

Aber wie gelang es Sanctorius die perspiratio insensibilis mit einer solchen Genauigkeit zu wiegen? Obwohl die Waage eines der ältesten Messinstrumente ist und wahrscheinlich bereits in der Jungsteinzeit erfunden wurde, war Sanctorius der erste, der sie für Menschen verwendete. Um die Funktionsweise des Instrumentes zu verstehen und das praktische und mechanische Wissen nachzuvollziehen, das für diese neue Anwendung der Waage nötig war, wurde Sanctorius’ Stuhlwaage rekonstruiert und Experimente damit durchgeführt (Abb. 7).

The Reconstruction of the Sanctorian Chair. © Paul Weisflog

Abb. 7: Die Rekonstruktion der Stuhlwaage von Sanctorius. © Paul Weisflog.

Im Rahmen eines Seminars an der Technischen Universität Berlin im Fachbereich der Wissenschaftsgeschichte waren Studierende am Rekonstruktionsprozess und den Versuchen mit der Stuhlwaage beteiligt. Basierend auf diesen Erfahrungen, wurde die Replikation weiter überarbeitet und verbessert. Die neuste Version wurde bei der diesjährigen Langen Nacht der Wissenschaften in Berlin ausgestellt, um Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit zu geben, die Messungen selbst auszuprobieren. Studierende und Besucher_innen halfen Sanctorius’ Wiegepraxis zu analysieren, ihre Umsetzbarkeit sowie die sozialen Dimensionen, die in diesem Vorhaben inbegriffen sind (z.B. wie viele Menschen benötigt werden, um die Wiegeexperimente durchzuführen).

Weighing chair at the LNDW at MDC

Abb. 8: Besucherinnen und Besucher bei der Langen Nacht der Wissenschaften 2018. © Stephanie Hood.

Aus den schriftlichen Quellen von Sanctorius wissen wir, dass er für seine Waage eine doppelte Verwendung vorsah: Auf der einen Seite fungierte sie als Forschungsinstrument, um Veränderungen in der Herstellung der perspiratio insensibilis zu überwachen. Auf der anderen Seite half sie ein ideales Körpergewicht zu bestimmen und zu halten. Laut Sanctorius war die gesunde Menge Nahrung direkt mit der Quantität der perspiratio insensibilis verbunden, da die Quantität, Qualität und die Art des Essens und Trinkens den Ausstoß und die Zurückhaltung von wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren Ausscheidungen beeinflusste.   
 
Die Erfahrungen mit der Rekonstruktion deuten darauf hin, dass Sanctorius die Messmethode in Hinblick auf diese zwei verschiedenen Funktionen anpasste. Wahrscheinlich versuchte er in einer Anfangsphase eine gesunde Quantität der unmerklichen Perspiration zu definieren. Sobald es ihm gelang diese Quantität festzulegen, realisierte er womöglich, dass der Stuhl nicht nur dem Arzt hilft Gewichtsveränderungen festzustellen und auf dieser Basis Regeln für ein gesundes Leben zu erstellen, sondern auch die Möglichkeit bot ein Idealgewicht zu finden und zu halten. Um Privatpersonen, sogar Laien, die Verwendung des Stuhles zu ermöglichen, könnte er verschiedene Messmethoden verwendet haben. Die Konstruktion der Stuhlwaage hat er dann dementsprechend angepasst. Das würde auch erklären, warum Sanctorius die Beschreibung und Abbildung der Stuhlwaage erst 11 Jahre nach der De statica medicina veröffentlichte, im Kommentar zu Avicenna. Als er die neue Funktion seiner Stuhlwaage entdeckte, mag er die Notwendigkeit verspürt haben das Instrument zu veröffentlichen, um es für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen.

Kurz nach ihrer Publikation, verbreiteten sich Sanctorius’ Stuhlwaage und die De statica medicina wie ein Lauffeuer in ganz Europa und erreichten sogar South Carolina in Kolonialamerika. Zahlreiche Gelehrte imitierten die Gewichtsexperimente und waren von Sanctorius’ neuer Quantifizierungsidee und -methode begeistert. Im Jahr 1711 beschrieb ein Leser der englischen Zeitschrift The Spectator seine Art den „Sanctorianischen Stuhl“ zu verwenden:

„Nachdem ich mir diesen Stuhl bereitgestellt hatte, studierte, aß, trank und schlief ich darin; so sehr, dass gesagt werden kann, dass ich in diesen letzten drei Jahren in einer Waage gelebt habe. [...] Sobald ich mich nach dem Abendessen angemessen im Gleichgewicht befinde, laufe ich, bis ich fünf Unzen und vier Skrupel transpiriert habe; und wenn ich durch meinen Stuhl entdecke, dass ich verringert wurde, dann stürze ich mich in meine Bücher und studiere weitere drei Unzen fort.“ (Bond, Donald F. (Hg.) (1987): The Spectator, Vol. 1. Oxford: Oxford University Press, S. 106. Erstveröffentlichung 1711.)      

Genau wie wir die heutige tragbare Technologie verwenden, um zu entscheiden, ob wir uns noch ein großes Stück Schokoladenkuchen gönnen (oder nicht), wurde Sanctorius’ Stuhlwaage verwendet, um ein Idealgewicht zu halten. Sie hat uns den Weg zum Selbstvermessen bereitet.