Forschungsthemen

Al-Mulakhkhaṣ fī al-hayʾa von Maḥmūd al-Jaghmīnī (d. ca. 1221–1222), Staatsbibliothek zu Berlin, Wetzstein II 1135, f24a.

Nr 60
ISMI: Eine Ressource des 21. Jahrhunderts für islamische wissenschaftliche Manuskripte
Die Islamic Scientific Manuscript Initiative (ISMI) startete vor mehr als zehn Jahren mit der Mission, Informationen zu allen islamischen Manuskripten der exakten Wissenschaften zugänglich zu machen – egal, ob diese auf Arabisch, Persisch, Türkisch oder in anderen Sprachen verfasst wurden. Zehntausende wissenschaftlicher Manuskripte, die sich weltweit in Bibliotheken und Archiven befinden, sind derzeit noch ungelesen und die Fragen zu ihrer Autoren-, Kopisten- und Leserschaft wie auch ihrem historischen Kontext damit unbeantwortet. Die ISMI-Datenbank ist eine elektronische Ressource, die es möglich machen soll über das Studium einiger weniger Personen und Manuskripte hinaus zu gehen und die islamische Wissenschaft als ein soziales Unterfangen zu betrachten.

Die ISMI-Datenbank bietet Zugang zu Autoren der islamischen Welt, zu ihren Werken und den erhaltenen Manuskripten aus den verschiedenen Bereichen der mathematischen Wissenschaften: den „reinen“ mathematischen Wissenschaften (Geometrie, Arithmetik, Algebra und Trigonometrie) wie den „gemischten“ mathematischen Wissenschaften (Astronomie, Optik, Musik und Mechanik). Die Datenbank enthält derzeit vielfältige Einträge zu Personen (Autoren, Kommentatoren, Kopisten, Besitzer von Codizes, Studenten, Leser usw.) aus dem Bereich der gesamten islamischen Welt bis nach Südasien und vom achten Jahrhundert bis über das neunzehnte Jahrhundert hinaus.

Die öffentliche Website der Datenbank wurde im Dezember 2018 überarbeitet und enthält derzeit Informationen über 2300 Werke, die in 7000 Manuskripten vorliegen, sowie über 700 Personen bis etwa ins Jahr 751 d. H./1350 n. Chr. Im Laufe des Jahres 2019 werden weitere Datensätze zugänglich gemacht.

Die ISMI-Datenbank ermöglicht das Blättern und Suchen nach Autorinnen und Autoren, Titeln und Manuskriptinformationen in arabischer oder lateinischer Schrift. Als Recherchetool ermöglicht die Datenbank den Benutzerinnen und Benutzern aber auch den Zugriff auf zusätzliche Informationen, die in Katalogen normalerweise nicht zu finden sind.

Ownership notes and study note in the codex Landberg 33, Staatsbibliothek zu Berlin.

Abb. 1: Eigentumsvermerke und Studienvermerke im Codex Landberg 33, Staatsbibliothek zu Berlin.

Eine Besonderheit der ISMI-Datenbank ist, dass sie Kommentarketten eines Textes in Form von Links anzeigt, so dass auch abgeleitete Werke im Verlauf der Zeit verfolgt werden können. Darüber hinaus enthält die Datenbank Detailinformationen wie Eigentums- und Leservermerke eines Codex, wie in Abb. 1 dargestellt, aber auch Incipits (erste Wörter des Textes), Explicits (letzte Wörter) und Kolophone (Informationen über Text und Schreiber, oft mit Ort und Datum der Kopie) der Werke. Mit all diesen Informationen ist es möglich, bisher anonyme Werke zu identifizieren und Übertragungsketten und Netzwerke von Forschenden aufzuzeigen.

Experimental visualization of commentary relations around the text al-Mulakhkhaṣ fī al-hayʾa by Maḥmūd al-Jaghmīnī. Shown are authors’ names scaled by number of witnesses in the database.

Abb. 2: Experimentelle Darstellung der Kommentarbeziehungen zu dem Text al-Mulakhkhaṣ fī al-hayʾa von Maḥmūd al-Jaghmīnī. Dargestellt werden die Namen der Autoren, gestaffelt nach der Anzahl der Textzeugen in der Datenbank.

Abb. 2 ist eine experimentelle Darstellung der Kommentarbeziehungen zu dem Text al-Mulakhkhaṣ fī al-hayʾa von Maḥmūd al-Jaghmīnī aus dem dreizehnten Jahrhundert, unter Verwendung teilweise unveröffentlichter Daten. Dieses Werk ist ein einführender Text in die theoretische ptolemäische Astronomie, der in der Lehre verwendet wurde und über acht Jahrhunderte lang zahlreiche Kommentare, Kommentare zu den Kommentaren, Glossen und Übersetzungen hervorbrachte. Die Darstellung zeigt das Netzwerk von Kommentaren in Form der Namen der Autoren, skaliert nach der Anzahl der in der Datenbank vorhandenen Kopien dieser Manuskripte. Jaghmīnī befindet sich in der oberen Mitte, und wir können erkennen, dass der Kommentar von Qāḍīzāde al-Rūmī aus dem fünfzehnten  Jahrhundert und Bīrjandīs Kommentar zu Qāḍīzādes Kommentar unten rechts mehr Textzeugen haben als der Originaltext von Jaghmīnī.

Experimental visualization of dates and places of manuscripts of Jaghmīnī’s Mulakhkhaṣ source text (orange) and Qāḍīzāde’s (purple) and Bīrjandī’s (green) commentaries using the PlaTiN geobrowser.

Abb. 3: Experimentelle Darstellung von Daten und Orten der Manuskripte von Jaghmīnīs Mulakhkhaṣ Quelltext (orange) sowie Qāḍīzādes Kommentar (lila) und Bīrjandīs Kommentar (grün) mit dem PlaTiN Geobrowser.

Abb. 3 zeigt einen Screenshot einer weiteren experimentellen Darstellung, die Daten und Orte von Manuskripten von Jaghmīnīs Mulakhkhaṣ und der Kommentare von Qāḍīzāde und Bīrjandī zeigt. Es handelt sich um eine Visualisierung der aktuellen Daten in der Datenbank. Die Tortendiagramme im Screenshot zeigen die Verteilung der Orte, an denen Manuskripte kopiert wurden. Der große grüne Anteil stellt Einträge ohne bekannten Ort dar, dies bedeutet, dass die Ortsangaben auf der Karte beschränkt und nicht repräsentativ sind. Dennoch können solche Visualisierungen als Ausgangspunkt für weitere Forschungen dienen, und wir können bereits sehen, dass dieser Einführungstext in die theoretische Ptolemaische Astronomie bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein studiert, kopiert und diskutiert wurde.

Im Gegensatz zu einem gedruckten Katalog wird die ISMI-Datenbank ständig aktualisiert: Ihr Inhalt wird erweitert und korrigiert, und auch ihre Software muss regelmäßig gewartet werden, damit sie sicher und benutzbar bleibt. Die maßgeschneiderte Datenbanksoftware, die wir vor zehn Jahren geplant und vor fünf Jahren entwickelt haben, ist in die Jahre gekommen. Sie wird von uns derzeit durch neue Standardlösungen ersetzt, die auch in den kommenden Jahren noch unterhalten werden können. Dazu gehören die neue Drupal-basierte Website und die laufende Migration der zugrunde liegenden Datenbank auf die Technologie der neuen digitalen Forschungsinfrastruktur des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte.

Der Schwerpunkt der nächsten Phase des ISMI-Projekts liegt darin, mehr Forschende dazu einzuladen, sich mit der Datenbank zu befassen und zum Projekt beizutragen. Bitte probieren Sie ISMI aus, denn mit Ihrem Feedback können wir die Datenbank weiterentwickeln und damit dazu beitragen, den intellektuellen, institutionellen, religiösen und sozialen Kontext islamischer wissenschaftlicher Traditionen zu erforschen!