N° 440
Das Prinzip Kontingenz in der Naturwissenschaft der Renaissance

Das Prinzip Kontingenz in der Naturwissenschaft der Renaissance Der Gegenstand dieses Preprints ist die Renaissance-Naturwissenschaft, ihre Theorie und Praxis. Der Essay zielt darauf ab, zwei alte, aber noch weit verbreitete Gemeinplätze der Wissenschaftsgeschichte zu entzaubern: zum einen die Vorstellung, dass die Entwicklung der Naturwissenschaften deterministisch konnotiert sei, weil sie auf das progressiven Enthüllen einer objektiv festgelegten Natur nach dem Motto „Veritas filia temporis“ gerichtet ist; und zum anderen die Überzeugung, dass eine mathematische Naturwissenschaft keinen Raum für die Kontingenz zulässt, weil ein mathematisches Verständnis der Wirklichkeit mit dem Determinismus notwendigerweise gekoppelt sei. Im Gegensatz zu diesen Vorstellungen waren Renaissance-Ingenieure und Wissenschaftler sich der historischen Kontingenz ihrer Disziplinen (etwa der Astronomie, der Mechanik und der Mathematik) durchaus bewusst. Sie reflektierten darüber, dass die Gestalt ihrer Disziplinen unmittelbar von Überlieferungen und Übersetzungen von Quellen und Theorien sowie von der Hybridisierung dieser mit mittelalterlichen Konzeptionen abhing. Darüber hinaus weisen die Naturvorstellungen von Ingenieuren wie Cardano, Tartaglia, Baldi, Ramelli, Benedetti und Galilei starke Ähnlichkeiten zur Naturvorstellungen von zeitgenössischen Philosophen auf: Vor allem war der Begriff der Natur als ein nach dem Modell des Handwerkers gedachtes Subjekt, das die Wirklichkeit mathematisch, aber mit einer gewissen Ungenauigkeit hervorbringt, ihnen gemeinsam. Die Erfahrung der Ingenieure und Handwerker war die Basis für diese Naturkonzeption, in welcher der Akzent auf dem Herstellungsprozess einer Natura naturans lag statt auf dem fertigen „Produkt“. Beispiele aus Werken verschiedener Renaissance-Autoren und aus den experimentellen Praktiken des Galileo werden untersucht und gedeutet, um die Rolle der Kontingenz in der frühneuzeitlichen Mechanik als Indiz einer Entwicklungsstufe der Naturwissenschaften zu verstehen, die bereits den Anspruch auf umfassende Welterklärung erhebt, diesen aber noch nicht in die Form eines mechanistischen Weltbildes gekleidet hat.