Forschungsthemen

Left: Audience members showing active participation at a Tedx Talk in Brussels. Right: A page from Youmans’ Atlas of chemistry from 1856 depicting the oxygen, carbon (carbonic acid), and water cycles through the atmosphere and biosphere. Sources: TEDx Brussels, Flickr Creative Commons; EL Youmans, Youmans’ Atlas of Chemistry, New York: D. Appleton & Co. (1856).

Nr 83
Soziale Aspekte eines wissenschaftlichen Durchbruchs: Fritz Haber, Walther Nernst und die Entdeckung der Ammoniaksynthese 1830–1930
Die Ammoniaksynthese bildet eine wesentliche Voraussetzung für die Massenproduktion von Düngemitteln und Sprengstoff. Ihre Entdeckung wurde als wichtigster wissenschaftlicher Durchbruch des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Historisch betrachtet war Ammoniak in Bereichen wie technologische Entwicklung, Ressourcenmanagement, Geopolitik, Rüstungsindustrie und soziale Inklusion von entscheidender Bedeutung.

Auch die Rolle der Naturwissenschaften sowie insbesondere die fachliche Kommunikation zwischen Wissenschaftlern, die an der Entdeckung der Ammoniaksynthese beteiligt waren, sind in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich.

In meinem Buch Making Ammonia erläutere ich anhand dieses denkwürdigen Ereignisses, wie Kommunikation und interdisziplinärer Austausch neue wissenschaftliche Erkenntnisse, Problemlösungen und Durchbrüche im Bereich der industriellen und gesellschaftlichen Nutzung möglich machen. Um die komplexen Abläufe der wissenschaftlichen Forschung aufzuschlüsseln, konzentriere ich mich dabei auf die Frage, wie die Physikochemiker Fritz Haber und Walther Nernst im Zuge der Entwicklung der Ammoniaksynthese interagiert haben. Doch es geht nicht nur um Ammoniak. Auch ein Verständnis der sozialen Zusammenhänge eines wissenschaftlichen Durchbruchs kann uns dabei helfen, weitere wichtige wissenschaftliche und soziale Aufgabenstellungen heute und in Zukunft zu bewältigen.

Photograpy showing Walther Nernst, Albert Einstein, Max Planck, Robert Milikan, and Max von Laue debating

01: Wissenschaftler im Gespräch. Von links: Walther Nernst, Albert Einstein, Max Planck, Robert Millikan und Max von Laue im Jahr 1931. Quelle: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, III. Abt. Rep 57, NL Bosch; Akz 46/95, Bildnummer III/2.

Die Entwicklung der modernen Wissenschaft: Komplexe Soziale Zusammenhänge

Eine historische Betrachtung der wissenschaftlichen und menschlichen Faktoren, die zu einem Durchbruch bei der Ammoniaksynthese beigetragen haben, hilft uns, die allgemeine Entwicklung der Wissenschaft besser zu verstehen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatten Forschende in den Agrarwissenschaften, Energiewissenschaften sowie der organischen und physikalischen Chemie einen umfassenden Wissensfundus über das chemische Verhalten von Stickstoff und die damit verbundenen Folgen für das menschliche Leben zusammengetragen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts definierten die Agrarwissenschaften die Funktion von Stickstoff und Kohlenstoff für das Pflanzen- und Tierwachstum, indem sie rudimentäre Formen der Stickstoff- und Kohlenstoffkreisläufe in der Biosphäre und Atmosphäre ermittelten. Und Chemiker* begründeten die organische Chemie als eigenständige Disziplin, nachdem sie zuvor das Chaos der kohlenstoffhaltigen Verbindungen in eine gewisse Ordnung gebracht hatten.

Diese Fortschritte hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Wachstum der Chemieindustrie in Großbritannien und Deutschland zur Folge. Für neue wissenschaftliche Herausforderungen wie die Ammoniaksynthese herrschten dort günstige Bedingungen. Durch die Zusammenführung von Chemie und Energiewissenschaften in die Disziplin der physikalischen Chemie boten sich in den 1880er Jahren zudem völlig neue Möglichkeiten der Kontrolle chemischer Reaktionen. Zum Beispiel der Sabatier-Prozess, der noch heute bei der Gewinnung von Methanol aus Kohlendioxid und Wasserstoff zum Einsatz kommt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren schließlich alle Weichen für die Entdeckung der Ammoniaksynthese gestellt. Diese Geschichte eines erfolgreichen technologischen Wandels zeigt, dass sich Durchbrüche nicht nur in Wissenschaft und Technik, sondern auch in der Gesellschaft vollziehen.

Photography of scientists from the Technical University of Karlsruhe, Germany, feigning boredom and sleep.

02: “Parody Photo: The Colloquium.” At the Institute for Physical Chemistry and Electrochemistry at the Technical University of Karlsruhe where Fritz Haber worked and taught in 1909. Even scientists who achieve important breakthroughs have some fun sometimes. Source: Archive of the Max Planck Society, Berlin-Dahlem, Jaenicke and Krassa Collections, Picture Number VII/5.

Einen wissenschaftlichen Durchbruch erzielen: Kommunikation von Perspektiven

Wissenschaftliche Entdeckungen sind eine menschliche und soziale Leistung. Fritz Haber forschte in den Jahren 1903 bis 1909 zur Ammoniaksynthese. Und obwohl er als ihr Entdecker gilt, hat er sich nicht allein mit diesem Thema beschäftigt. Seine Leistung stützte sich auch auf die Erfolge anderer Wissenschaftler*, darunter vor allem der Physikochemiker Walther Nernst, aber auch Wilhelm Ostwald, der sich ebenfalls erfolglos an der Ammoniaksynthese versucht hatte. Aus einem Archiv der Korrespondenz zwischen diesen Wissenschaftlern sowie aus Anmerkungen in ihren Publikationen zu Ammoniak geht hervor, wie wichtig der wechselseitige Austausch für ihr wissenschaftliches Fortkommen war.

Eine Begebenheit ist besonders aufschlussreich: die Versammlung der Bunsen-Gesellschaft in Hamburg im Jahr 1907. In populären und akademischen Publikationen zur Wissenschaftsgeschichte erfreut sich dieses Ereignis einer gewissen Bekanntheit. Häufig wird die Versammlung als dramatischer Showdown zwischen dem erfahrenen Berliner Wissenschaftler Walther Nernst und dem Karlsruher Nachwuchswissenschaftler Fritz Haber beschrieben. Beide arbeiteten fieberhaft an der Entwicklung eines industriellen Verfahrens zur Herstellung von Ammoniak. In historischen Interpretationen ist oft zu lesen, dass Nernst seinen weniger erfahrenen Kollegen scharf kritisiert und Haber sogar vorgeschrieben habe, welche Experimente er durchführen müsse, um einen Durchbruch zu erzielen.

Die Ereignisse lassen jedoch auch eine andere Interpretation zu. Anstelle eines erniedrigenden Kräftemessens könnte es sich auch um einen knallharten fachlichen Austausch gehandelt haben. Denn Haber argumentierte zwar diplomatischer, doch seine Anmerkungen zur Ammoniaksynthese waren nicht weniger pointiert. Im Jahre 1907 verfügte Haber nach eigener Auffassung über gesicherte Ergebnisse und konterte Nernsts Bedenken mit eigenen überzeugenden Erkenntnissen. Tatsächlich ist die „Polemik“ zwischen Haber und Nernst ein hervorragendes Beispiel für eine Form der wissenschaftlichen Kommunikation, die eine wesentliche Voraussetzung für den Gewinn neuer Erkenntnisse bildet. Auch in der heutigen Forschungsgemeinde ist eine solche Dynamik noch weit verbreitet. Niemals verfügt eine einzige Person über alle nötigen wissenschaftlichen Informationen, und ein Durchbruch stützt sich auf verschiedene Beiträge, auch wenn sie aus scheinbar gegensätzlichen Lagern stammen.

Von der Wissenschaft in die Gesellschaft: Die Energiewende im 21. Jahrhundert

Diese komplexen sozialen Zusammenhänge kommen heute nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Gesellschaft zum Tragen. Zudem nimmt der Diskurs zur sozialen Inklusion im Vergleich zu Habers Zeiten immer mehr an Fahrt auf. Technologische Lösungen haben zweifellos einen Einfluss auf die Gesellschaft, doch auch grundlegendere kollektive Entscheidungen können auf Wissenschaft und Technologie einwirken und eine entscheidende Funktion im Bereich der Forschung übernehmen. Durch diese wechselseitige Beeinflussung kann der soziale Diskurs Möglichkeiten aufzeigen, auf aktuelle und künftige globale Herausforderungen wie den Klimawandel und die Energiewende zu reagieren.

Picture of the transport of a high-pressure ammonia reactor (oven) in 1969

03: Transport eines Ammoniak-Hochdruckreaktors (Ofen) im Jahr 1969. Die Größe der Rohre war seit der Vergrößerung der Haber'schen Erfindung 60 Jahre zuvor gleich geblieben. Quelle: BASF SE, Unternehmensgeschichte, Ludwigshafen.

Im Fall der Ammoniaksynthese war der soziale Diskurs keine Voraussetzung, um einen wissenschaftlichen Durchbruch industriell umzusetzen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Ammoniak als Hauptbestandteil von Düngemitteln und Sprengstoff zu einer lebenswichtigen Ressource gegen den Hunger in Kriegszeiten und zur Fortführung der Kampfhandlungen. Die Technologie kam weltweit zum Einsatz.

Doch eine Energiewende ist kein üblicher technologischer Wandel. Sie erfordert oft ein langwieriges und komplexes Engagement. Um den derzeitigen Wandel zu bewältigen, bemühen sich Wissenschaftler*innen und Ingenieur*innen aktiv um die Entwicklung von Lösungen für umweltfreundliche Energiesysteme wie Solarzellen und Windturbinen. Allerdings hat es sich als weitaus größere Herausforderung erwiesen, einen gesellschaftlichen Konsens und ein Umdenken über das Ob und Wie einer Umsetzung dieser Lösungen zu sichern. Im Rahmen der Klima- und Energiekrise besteht eine der zentralen Aufgaben darin, einen Konsens innerhalb und zwischen Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft zu erzielen. Anschließend könnten Forschende der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften über ihre tägliche Arbeit hinaus in einen Dialog mit der Gesellschaft treten. Auf diese Weise könnten wir eine einvernehmliche Zukunftsvision entwickeln und so das nötige Vertrauen für eine Lösung der aktuellen globalen Herausforderungen schaffen.

* Der Autor schreibt „Chemiker“ bewusst aus historischen Gründen.

Two depictions. Left: Off-shore windmills; Right: Solar powerplant of a field

04: Links: Ein Offshore-Windrad erzeugt Strom aus der Bewegung der Luft. Rechts: Eine Solarzelle oder Fotovoltaikzelle wandelt Sonnenlicht direkt in Strom um. Beide sind von zentraler Bedeutung für die derzeitige Energiewende. Quelle: Unsplash.