Forschungsthemen

Ausschnitt aus einer Bodenerosionskarte, die Mitte der 1930er Jahre als Reaktion auf die Umweltkrise der Dust Bowl erstellt wurde. Wie viele andere wissenschaftliche Darstellungen soll auch diese Karte sowohl die Welt darstellen als auch kollektives Handeln mobilisieren. Quelle: Arthur H. Joel, Soil Conservation Reconnaissance Survey of the Southern Great Plains Wind-Erosion Area, U.S. Department of Agriculture, 1937.

Nr 84
Knowledge Systems and Collective Life: Ein neuer Ansatz in der Erforschung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik
Klimawandel, Pandemie, Krieg, Migration, wirtschaftliche Unsicherheit – in den letzten Jahren scheint die Zahl der Krisen und der anschließenden Forderungen nach Sofortmaßnahmen immer mehr an Tempo zu gewinnen. Unter diesen Umständen erscheint es vielen der am politischen Entscheidungsprozess Beteiligten offenkundig, dass die Wissenschaft eine zentrale Rolle übernehmen muss. Inmitten der Unwägbarkeiten verspricht sie einen klaren Blick auf Herausforderungen und Lösungsansätze, wenngleich sie dieses Versprechen nicht immer einlösen kann.

In vielerlei Hinsicht ist dies nichts Neues. Wissenschaftler*innen und andere Expert*innen sind schon seit langem gefordert, gesellschaftliche Gruppen bei der Bewältigung unerwarteter Herausforderungen und bei der Vorbereitung auf drohende Gefahren zu unterstützen. Doch offenbar erleben wir gerade außergewöhnlich unruhige Zeiten. Annahmen über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, die auch von Wissenschaftshistoriker*innen als gegeben betrachtet wurden, können nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Angesichts eines Vormarsches autoritärer Regime und einer zunehmenden Wissenschaftsskepsis wird heute vor allem der enge Zusammenhang zwischen liberaler Demokratie und moderner Wissenschaft in Zweifel gezogen. Zur  Umwelt-, Gesundheits-, Sicherheits- oder Wirtschaftskrise hinzu kommt daher auch eine Krise darüber, ob wir auf Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses der uns umgebenden Welten kollektive Maßnahmen zu ergreifen imstande sind.

A photograph of flooding in New Orleans in the aftermath of Hurricane Katrina in 2005. Such not-so-natural disasters reveal how well-established metrics of environmental risk are being up-ended by climate change. Source: US Coast Guard.
Ein Foto der Überschwemmungen in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina im Jahr 2005. Solche nicht ganz so natürlichen Katastrophen zeigen, wie etablierte Maßstäbe für Umweltrisiken durch den Klimawandel auf den Kopf gestellt werden. Quelle: US-Küstenwache. 

Wissensbildung, Zusammenleben

Die 2022 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) gegründete Abteilung „Knowledge Systems and Collective Life“ betrachtet diese politisch-epistemologische Krise sowohl als Herausforderung als auch als Chance für die Wissenschaftsgeschichte und damit zusammenhängende Disziplinen.

Bisher war die Forschung zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik vor allem auf die Frage gerichtet, in welcher Form Wissenschaftler*innen und ihre Erkenntnisse Gesetze und Vorschriften beeinflusst und wie sich Regierungen und Ideologien auf Wissenschaftspraktiken ausgewirkt haben. Zwar sind dies wichtige Themenfelder, doch bilden sie nur einen Bruchteil der unzähligen alternativen Möglichkeiten ab, wie gesellschaftliche Gruppen im Lauf der Geschichte Wissensbildung und die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens miteinander verknüpft haben. Viele dieser alternativen Wissens- und Beziehungsformen sind zwar informeller, lokaler und alltäglicher, doch keinesfalls weniger wichtig als die der modernen Wissenschaft und Politik. Die moderne Wissenschaft selbst basiert auf verschiedenen Formen des Verständnisses von Umwelten, Körpern und sogar des gesamten Kosmos, genauso wie auch die moderne Politik auf zahlreichen alternativen Formen der Machtverteilung und kollektiven Entscheidungsfindung beruht. Lassen wir diese anderen Möglichkeiten außer Acht, laufen wir nicht nur Gefahr, wesentliche Teile der Geschichte auszuklammern, sondern auch die gegenwärtige Krise des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik misszuverstehen.

Die Wissenschaftler*innen der Abteilung nutzen daher historische und ethnografische Methoden, um häufig missachtete oder marginalisierte Akteur*innen, Perspektiven und Traditionen zu berücksichtigen. Neben der modernen Wissenschaft befassen wir uns mit anderen Wissenssystemen, auf denen sie aufbaut, mit denen sie im Wettstreit steht oder die sie verdrängen will und die jeweils über eine ganz eigene soziale Organisation, materielle Kultur und spezielle Standards der empirischen Evidenz und Argumentation verfügen. Wir untersuchen auch Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens außerhalb der klassischen Politik – in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen, Wissenschaftsverbänden und transnationalen Netzwerken. Wir setzen uns ausführlich mit den Beteiligten des gesellschaftlichen Zusammenlebens auseinander, in dem Bewusstsein, dass ein Zusammenleben – politisches Leben im weitesten Sinne – nicht ohne den Beitrag von Tieren, Pflanzen, Pilzen, Viren, Bakterien und anderen Nicht-Menschen möglich wäre.

A photograph of the March for Science in Washington, DC, in 2017.

Ein Foto vom Marsch für die Wissenschaft in Washington, DC, im Jahr 2017. Demonstrationen dieser Art zeigen das ungeklärte Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik in der heutigen Zeit und verweisen auf die lange Geschichte der Auseinandersetzungen über das Verhältnis zwischen Wissensproduktion und kollektivem Leben. Quelle: Molly Adams, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons.

Umweltkrise, Vertrauen in die Wissenschaft und Datenpolitiken

Unsere Forschung konzentriert sich auf drei Themenfelder. Erstens geht es um den Einfluss von Krisen auf die Art der Produktion von Umweltwissen. Die Wissenschaft muss ohne Frage eine zentrale Rolle bei der Bewältigung des Klimawandels, des Verlusts der biologischen Artenvielfalt, der Verschmutzung mit toxischen Substanzen und anderer Umweltprobleme übernehmen. Doch wie verändert sich die Wissenschaft selbst angesichts einer Krise? Inwieweit wandelt sich ihr Verhältnis zu anderen Wissenssystemen? Diesen Fragen gehen wir nach und setzen uns dabei auch kritisch mit dem Konzept der Krise auseinander, die häufig als Argument herangezogen wird, um abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen und zeitliche Handlungsrahmen einzuschränken.

Der zweite Themenbereich betrifft das Vertrauen in die Wissenschaft. Häufig ist zu hören, das Vertrauen in die Wissenschaft sei in den letzten Jahren zusammen mit dem Vertrauen in die Regierung und die Presse gesunken. In unserer Forschung stellen wir Verschwörungstheorien, alternative Fakten und andere zeitgenössische Ausdrucksformen des Misstrauens in einen langfristigen, vergleichenden Kontext. Dabei betrachten wir Vertrauen nicht als isoliertes Phänomen. Vielmehr wollen wir nachvollziehen, wie durch die von der Wissenschaft geförderten Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Wissensbildung Bedingungen geschaffen wurden, in denen Vertrauen steigen oder sinken kann. In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch ernsthaft mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Misstrauen in einigen Fällen durchaus eine Berechtigung hat.

Im letzten Themenbereich erforschen wir Datenpraktiken und -politiken. Daten sind eine wichtige Ressource für Wissenschaft und Politik, können aber auch Skepsis und Kontroversen hervorrufen. Über die Untersuchung der Produktion und Nutzung von Daten wollen wir einen Einblick in zentrale Themen der historischen Epistemologie – wie die Entwicklung neuer Forschungsgegenstände und materielle Praktiken der Wissensproduktion – sowie in die Geschichte von Eigentum, Arbeit, Souveränität, Rechten und Repräsentation gewinnen. Wie auch bei den vorangehenden Forschungsthemen behalten wir dabei auch diejenigen historischen Akteur*innen im Blick, die häufig missachtet oder marginalisiert wurden.

A visual representation of the number of African-Americans living in urban and rural areas of the United States, based on the census of 1890.

Eine visuelle Darstellung der Anzahl von Afroamerikaner*innen, die in städtischen und ländlichen Gebieten der Vereinigten Staaten leben, basierend auf der Volkszählung von 1890. Die von W.E.B. Du Bois für eine Ausstellung auf der Pariser Weltausstellung von 1900 entworfene Grafik zeigt, wie Daten auf kreative Weise für politische, soziale und epistemische Zwecke mobilisiert wurden. Quelle: Library of Congress.

Oral History, experimentelle Medien und partizipative Forschung

Die Abteilung beabsichtigt darum, Methoden und Quellen zu erschließen, um diese umfassenderen, inklusiveren Versionen der Geschichte erzählen zu können. Unkonventionelle, marginalisierte oder oppositionelle Formen der Wissensgewinnung und der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden in offiziellen Archiven und Veröffentlichungen – wenn überhaupt – häufig falsch dargestellt. In mündlichen Überlieferungen, persönlichen Erinnerungen und informellen Archiven findet sich dagegen eine ganze Fülle von Informationen zu diesen Themen. Um Forschende bei der Suche nach derartigen Quellen zu unterstützen, bauen wir ein Labor auf, das Schulungen, technische Ausstattung und einen speziellen Arbeitsbereich für Oral History-basierte Projekte und multimodale Forschung verfügbar macht.

Darüber hinaus planen wir den Aufbau von Kooperationsbeziehungen mit nicht-wissenschaftlichen Organisationen, verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen, die über einschlägiges Wissen aus der Vergangenheit verfügen und sich in ihrem Alltag mit den Auswirkungen dieser Vergangenheit konfrontiert sehen. Wir wollen auf diese Weise einen Begegnungspunkt für Menschen bieten, die sich um ein besseres Verständnis der Beziehungen zwischen Wissenssystemen und gesellschaftlichem Zusammenleben bemühen. Kooperationen dieser Art sind für die Umsetzung der Forschungsziele der Abteilung von grundlegender Bedeutung und können dazu beitragen, einen Weg durch die politisch-epistemologischen Unsicherheiten der Gegenwart zu ebnen.