Pressemitteilung vom 29. November 2001

"Rassenforschung" - was war das? Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik im "Dritten Reich"

Am 29. November berichtete der französische Wissenschaftshistoriker und Mitarbeiter des Forschungsprogramms "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" Benoit Massin im WissenschaftsForum Berlin über seine laufenden Forschungen zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik im "Dritten Reich".

"Rassenforschung", "Rassenkunde" oder "Rassenanthropologie" werden oft auch mit "Rassenideologie" gleichgesetzt und gelten in der zeithistorischen Forschung gemeinhin als Pseudowissenschaft. Man meint, ihren wissenschaftlichen Charakter, ihre Methoden und Aussagen nicht weiter befragen zu müssen, und begnügt sich damit, ihre institutionellen, politischen und verbrecherischen Umrisse kenntlich zu machen. "Rassenforschung" als eine Ideologie an der Grenze zur Mystik zu etikettieren, erlaubt es, sie als Gegenstand wissenschaftshistorischer Forschung zu vernachlässigen. Nur wenige Wissenschaftshistoriker oder -historikerinnen beschäftigen sich wirklich mit dem Inhalt dieser black box.

Tatsächlich setzt eine genauere Analyse des Verhältnisses von "Rassenforschung", Rassenpolitik und den medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus Kenntnisse der Forschungsannahmen, Denkhorizonte und Experimentierweisen dieser zu ihrer Zeit als "Wissenschaft" anerkannten Forschungsdisziplin voraus. Benoit Massin untersucht das Zusammenwirken von Wissenschaft, Politik und Verbrechen am Beispiel der zu ihrer Zeit avanciertesten Institution der Rassenforschung, dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem. Seine Quellenbasis bilden die rund 550 Publikationen, die an diesem Institut in den Jahren von 1933 bis 1945 entstanden.

Im Zentrum des Vortrags stand mit der "Rassengenetik" eine der prominentesten Forschungsrichtungen, die am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie verfolgt wurden. Ausgehend von einem humangenetischen Ansatz fragte sie nach möglichen "rassenspezifischen" Variationen und Häufungen sogenannter "normaler", nicht-pathologischer genetischer Eigenschaften. Hierbei lassen sich als die fünf wichtigsten Forschungsmethoden die Bastardforschung, die Zwillingsforschung, die Familienforschung, die Embryologie und die Tierversuche bzw. Tiermodelle unterscheiden. Mit diesen naturwissenschaftlichen Methoden, die die Forschungspraxis am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in den Jahren 1940 bis 1944 prägten, unterschied sich die experimentelle Rassengenetik deutlich von der populären "Rassenkunde" etwa eines H. F. K. Günther.

Die Akzentuierung der wissenschaftlichen Logik dieser "Rassenforschung" bedeutet mitnichten eine Apologie dieser verbrecherischen NS-Wissenschaft. Es geht vielmehr darum aufzuzeigen, daß Modernität und Wissenschaft keineswegs automatisch auf der Seite von Humanismus und Demokratie anzusiedeln sind. Die wissenschaftliche Modernisierung der Rassenforschung ging gerade nicht mit einer Entpolitisierung einher. Noch viel weniger stellte sie eine Hemmschwelle dar gegen die Versuchung, jenseits jeden Rechts und jeder Moral auf wehrlose Versuchspersonen zuzugreifen. Vielmehr wird die kriminelle Rationalität der medizinischen Verbrechen in Auschwitz - wie beispielsweise der Augenexperimente von Josef Mengele und Karin Magnussen - erst erkennbar, wenn die Paradigmen der zeitgenössischen Rassenforschung als handlungsleitende Motive von wissenschaftlich ausgebildeten Tätern ernst genommen werden.

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Christine Rüter, 10. Januar 2002