Pressemitteilung vom 6. Februar 2003

Otto Hahn: Zwischen Vergangenheit und Erinnerung

Otto Hahn war eine hoch anerkannte Person des öffentlichen Lebens in der westdeutschen Nachkriegszeit. Er war nicht nur als Entdecker der Kernspaltung und Nobelpreisträger berühmt, sondern er symbolisierte aufgrund seiner distanzierten Haltung zum Nationalsozialismus auch das "gute" Deutschland. Seine wissenschaftliche Arbeit galt als "reine" Forschung, hatte er doch nicht an der Entwicklung der Atombombe gearbeitet, sondern die Kernspaltung allenfalls zu friedlichen Zwecken nutzen wollen. Als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (1946-1960) vertrat er erfolgreich die Argumentation, daß die Wissenschaft auch während des "Dritten Reichs" wesentlich vom intellektuellen Erkenntnisstreben bestimmt gewesen sei und die meisten Wissenschaftler von nationalsozialistischer Politik unbefleckt geblieben seien. Dieses beliebte, aber historisch und politisch sterile Bild konnte sich über lange Jahre halten. Es trug zur Rehabilitierung deutscher Wissenschaft im allgemeinen sowie zur Selbstdarstellung der MPG im besonderen bei. Es machte Otto Hahn schon zu Lebzeiten zu einer Legende, die den wissenschaftspolitischen Akteur bis nahezu in die heutige Zeit weitgehend gegen eine historisch-kritische Betrachtung feite.

Die politisch motivierte Konstruktion einer apolitischen Wissenschaft diente, wie neuere historische Studien gezeigt haben, vor allem der Rettung der personellen und institutionellen Kontinuität deutscher Wissenschaft. Sie verlangte sorgfältige Anstrengungen, die tatsächlichen Verbindungen von individuellen Wissenschaftlern und von Forschungsinstituten zum NS-Regime zu unterdrücken, zu verleugnen oder umzudeuten.

In ihrem Vortrag am 6. Februar 2003 im WissenschaftsForum befaßt sich die us-amerikanische Wissenschaftshistorikerin und Biographin von Lise Meitner, Professorin Ruth Lewin Sime, mit der Rolle Otto Hahns bei der Konstruktion dieses apolitischen Wissenschaftsbildes im Spannungsfeld von Erinnerung und Verdrängung. Ruth Sime kontrastiert Hahns Haltung während des Nationalsozialismus, für die ihm viele seiner ausländischen und vertriebenen Kollegen persönliche Anerkennung zollten, mit seinem Verhalten nach dem Krieg, das ein erklärungsbedürftiges Ungleichgewicht offenbart: Sein emotionales Engagement für die Leiden und Opfer derjenigen, die in Deutschland verblieben waren, überwog bei weitem sein Mitgefühl für die Verluste seiner emigrierten Freunde und Kollegen. Als Präsident der MPG nutzte Hahn den Entnazifizierungsprozeß, um eine neue Gemeinschaft der Zugehörigkeit für die in Deutschland Verbliebenen zu schaffen. Gleichzeitig schrieb er den emigrierten Kollegen ihre vom NS-Regime erzwungene Rolle als Außenseiter erneut zu. Zu den letzteren gehörte auch seine ehemalige Kollegin, die Physikerin Lise Meitner, deren entscheidende Rolle bei der Entdeckung der Kernspaltung, die im Jahr 1938 durch ihre Flucht verdeckt worden war, er auch nach dem Krieg nie in angemessener Form öffentlich würdigte. Darüber hinaus weisen Hahns spätere Erinnerungen und Autobiographien zeittypische Auslassungen und Aussparungen auf, wenn er etwa die Arbeiten am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie während des Krieges als "rein" wissenschaftlich und jederzeit öffentlich zugänglich beschrieb, obwohl sein Institut in das deutsche Kernforschungsprojekt eingebunden war und erhebliche Teile seiner Forschungen der Geheimhaltung unterlagen.

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Anke Pötzscher, 10. Januar 2003