Pressemitteilung vom 23. Oktober 2003

Faserstoff-Forschung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Netzwerke und Konflikte

Die Forschung an Faserpflanzen war von besonderer Bedeutung für die nationalsozialistische Rohstoffpolitik, für Wehrwirtschaft und Rüstung. Faserstoffe bildeten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den größten Importposten unter den industriellen Rohstoffen. In der Forschung ging es zum einen um die Entwicklung strapazierfähiger Stoffe für Uniformen, LKW- und Zeltplanen und sonstigen militärischen Bedarf, zum anderen sollten importierte Fasern möglichst durch einheimische ersetzt werden, um Devisen zu sparen. Günther Luxbacher analysiert in einer disziplinenübergreifenden Zusammenschau die Entwicklung der Faserstoff-Forschung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Er schlägt den Bogen vom 1913 angeregten und schließlich 1920 eröffneten Kaiser-Wilhelm-Institut für Faserstoffchemie bis zum KWI für Bastfaserforschung.

Obwohl in der Zelluloseforschung durchaus erfolgreich, konnte sich das KWI für Faserstoffchemie in der Zwischenkriegszeit nicht behaupten. Es wurde 1933 aus finanziellen Gründen und in Verkennung kommender Chancen auf dem Gebiet rüstungsrelevanter Forschung geschlossen. Erst mit den unmittelbaren Kriegsvorbereitungen im Rahmen des Vierjahresplans übernahm die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1938 eine bereits seit dem Ersten Weltkrieg von der Industrie betriebene Forschungsstelle für Bastfasern. Als Zentralinstitut angelegt und von der Industrie unterstützt, entwickelte sich das Institut unter der Leitung des Pflanzenphysiologen Ernst Schilling bis 1943, gemessen an der Mitarbeiterzahl, zum zweitgrößten Kaiser-Wilhelm-Institut.

Im Zentrum der Untersuchung stehen die Kooperationsformen und Konflikte zwischen Industrie, Verbänden, Ministerien und nationalen Wirtschaftsagenturen sowie militärischen Dienststellen. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte die eher exportorientierte Textil- und Papierindustrie eine Grundlagenforschung mit Stoßrichtung auf Ersatzfaserstoffe nicht im gewünschten Umfang mitgetragen. Im Kontext der nationalsozialistischen Autarkiepolitik wurden die Interessensdivergenzen zwischen Industrie und staatlicher Wirtschaftsplanung durch Spannungen zwischen den verschiedenen an der Faserforschung beteiligten Wissenschaftsdisziplinen verstärkt. Während die Technologen die Optimierung der chemischen und mechanischen Bearbeitungsverfahren und -maschinen sowie die Gebrauchswertforschung in das Zentrum ihrer Arbeit stellten, waren die Landbauwissenschaftler vor allem an der Züchtung ertragreicher Pflanzensorten interessiert. Der Versuch, beide Forschungsrichtungen zu integrieren, erwies sich als äußerst konfliktträchtig. Genetische, züchtungsforscherische, landbauwissenschaftliche, chemische, technologische und Gebrauchswert-Forschungen ließen sich nicht ausreichend aufeinander abstimmen. Mit der Aufgabe der Autarkiepolitik und der Rückkehr der Bundesrepublik zum Weltmarkt relativierte sich zudem rasch die Bedeutung der unter kriegswirtschaftlichen Bedingungen geleisteten Arbeit.

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Anke Pötzscher, 24. Oktober 2003