Pressemitteilung vom 12. Oktober 2000

Biowissenschaftliche Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten und die Verbrechen des NS-Regimes. Informationen über den gegenwärtigen Wissensstand

Das Forschungsprogramm der Max-Planck-Gesellschaft zur "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" hat am 12. Oktober 2000 zu seiner zweiten Pressekonferenz eingeladen. Der von Carola Sachse und Benoit Massin im Rahmen des Forschungsprogramms verfaßte Bericht "Biowissenschaftliche Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten und die Verbrechen des NS-Regimes. Informationen über den gegenwärtigen Wissensstand" wurde der Öffentlichkeit übergeben.

Seit längerem werden die biowissenschaftlichen Forschungen an Kaiser-Wilhelm-Instituten (KWI) während des "Dritten Reiches" diskutiert. Immer wieder werden "Verstrickungen" einzelner Wissenschaftler oder Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) in die rassenhygienische und antisemitische Mordpolitik des NS-Regimes hervorgehoben. Dabei konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf vier von mehr als fünfzig Forschungseinrichtungen, die von der KWG in den 1930er und 1940er Jahren unterhalten wurden. Im einzelnen handelt es sich um das KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem, die Deutsche Forschungsanstalt (DFA) für Psychiatrie (KWI) in München und das KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch. In jüngster Zeit richtet sich das Interesse auch auf das KWI für Biochemie in Berlin-Dahlem, das von dem Nobelpreisträger und späteren Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, Adolf Butenandt, geleitet wurde.

Das historische Wissen über die Forschungen an biowissenschaftlichen Instituten der KWG und ihre Verbindungen mit nationalsozialistischen Verbrechen ist angesichts der seit Mitte der 1980er Jahre betriebenen wissenschaftshistorischen Forschung einerseits beachtlich. Andererseits ist dieses Wissen aufgrund der schwierigen Quellenlage nach wie vor lückenhaft. Der jetzt vorgelegte Bericht faßt den erreichten Wissensstand zusammen und zeigt die offenen Forschungsfragen auf. Er untersucht die Bedeutung der erbmedizinischen und Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten für die nationalsozialistische Rassen- und Bevölkerungspolitik, die Zusammenarbeit mit den Instanzen der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Politik, die Verwendung menschlicher Präparate von "Euthanasie"-Opfern und Auschwitz-Häftlingen sowie die Beteiligung von KWG-Wissenschaftlern an unzulässigen medizinischen Menschenversuchen.

An erster Stelle zu nennen ist hier die wissenschaftliche Begründung der rassenhygienischen und erbbiologischen Maßnahmen von der Zwangssterilisation über die Zwangsabtreibung bis hin zu den "Euthanasie"-Morden durch KWG-Wissenschaftler wie Ernst Rüdin, Eugen Fischer und Fritz Lenz. Rüdin war Mitautor des maßgeblichen Kommentars zum Zwangssterilisationsgesetz von 1933. Darüber hinaus ist die öffentliche Legitimation der rassistischen und insbesondere der antisemitischen Politik durch Anthropologen wie Otmar v. Verschuer, Karin Magnussen und Eugen Fischer hervorzuheben. Verschuer fungierte seit 1937 beispielsweise als Sachverständiger für die "Forschungsabteilung Judenfrage" des "Reichsinstituts für die Geschichte des Neuen Deutschland", das sich mit der "Gesamtlösung der Judenfrage" beschäftigte. Die Institutsdirektoren Rüdin und Verschuer sowie der Abteilungsleiter Lenz waren in Beiräten und Expertenstäben der Reichsregierung tätig, in denen rassenhygienische und rassenpolitische Maßnahmen konzipiert, geprüft und weiterentwickelt wurden. Dazu gehörten der "Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik" des Reichsinnenministeriums und die "Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle" des Reichsgesundheitsamtes. Nicht zuletzt berieten sie rassenpolitisch relevante Ämter der NSDAP und der SS. Neben diesen führenden Wissenschaftlern erstellten zahlreiche weitere, zum Teil namentlich bekannte wissenschaftliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen rassenanthropologische, erbbiologische, psychiatrische und "kriminalbiologische" Gutachten für die Erbgesundheitsgerichte, den "Euthanasie"-Apparat und das Reichssippenamt. Diese Gutachten dienten der Erfassung und rassenpolitischen Verfolgung von Juden und anderen nicht-"arischen" Menschen, der "Rheinlandbastarde", von "Zigeunern", Homosexuellen und "erbkranken" Menschen.

Das KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik sowie die DFA/KWI für Psychiatrie beteiligten sich an der Ausbildung des medizinischen Fachpersonals für die Durchführung der Zwangssterilisationen. Bis Mitte 1935 wurden allein in Berlin 1.100 Ärzte und Amtsärzte geschult. Das KWI für Hirnforschung war mittelbar, über seine Außenstelle, die Prosektur in der Landesanstalt Brandenburg-Görden, an der Ausbildung des Personals für die sogenannten "Kinderfachabteilungen" der "Euthanasie"-Anstalten beteiligt. Dort wurden etwa die Leiter der westfälischen "Kinderfachabteilungen" geschult. Der Direktor der brandenburgischen Landesanstalt, Hans Heinze, wurde in das Kuratorium des KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch berufen und arbeitete mit dem Leiter der histopathologischen Abteilung, Julius Hallervorden, Hand in Hand. In Berlin-Buch wurden nachweislich mindestens 295 Gehirne von Menschen, die der "Euthanasie" zum Opfer fielen, für wissenschaftliche Untersuchungen mißbraucht; bei weiteren 403 verwendeten Gehirnpräparaten ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß sie von "Euthanasie"-Opfern stammten. Die DFA/KWI für Psychiatrie in München erhielt mindestens 194 Gehirne von "Euthanasie"-Opfern für Forschungszwecke.

Problematische Menschenversuche, nämlich Versuche an epileptischen Kindern in einer Unterdruckkammer der Luftwaffe, wurden von den Wissenschaftlern Gerhard Ruhenstroth-Bauer vom KWI für Biochemie und Hans Nachtsheim vom KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik durchgeführt. Der Mitarbeiter der DFA/KWI für Psychiatrie Julius Deussen führte im Zusammenhang mit der "Euthanasie" Versuche an Kindern durch, die anschließend ermordet wurden. Die Tötung der Kinder war integraler Teil einer Versuchsanordnung, in der die klinischen mit den pathologischen Befunden verglichen werden sollten. In ähnlicher Weise verfuhr eine Mitarbeiterin am KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Karin Magnussen untersuchte zunächst Zwillingskinder einer "Zigeuner"-Sippe mit heterochromen Augenpaare lebend. Nach der Ermordung der Kinder in Auschwitz ließ ihr der KZ-Arzt Josef Mengele deren Augenpaare zur weiteren wissenschaftlichen Analyse zusenden. In allen vier hier untersuchten Kaiser-Wilhelm-Instituten wurden Präparate von Opfern der nationalsozialistischen Mordpolitik, sei es von "Euthanasie"-Opfern, sei es von Opfern aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, für wissenschaftliche Forschungszwecke verwandt.

In Kenntnis der zum gegenwärtigen Zeitpunkt hinreichend belegten Beteiligungen von Kaiser-Wilhelm-Instituten im Bereich der Biowissenschaften und einer nicht geringen Zahl namentlich bekannter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an der nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik stellen sich dem Forschungsprogramm offene Fragen: Es ist zu prüfen, ob über die bekannten Fälle hinaus weitere unzulässige Menschenversuche durchgeführt und Präparate von Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik verwandt wurden. Handelt es sich um Einzelfälle, die bestimmten personellen und institutionellen Konstellationen geschuldet sind, oder sind diese bekannten Fälle symptomatisch für eine sehr viel weitergehende verbrecherische Fehlentwicklung in den Biowissenschaften während des "Dritten Reiches"? Wo sind dann die epistemologischen, innerwissenschaftlichen Anknüpfungspunkte für eine solche Fehlentwicklung zu finden?

Darüber hinaus stellt sich nicht nur die Frage nach den jeweils individuellen Motiven der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich mit der nationalsozialistische Rassen- und Bevölkerungspolitik eingelassen haben, sondern auch danach, wie sich Menschen, die Wissenschaft als Beruf betreiben, als verantwortlich Handelnde innerhalb ihres jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Systems selbst plazieren. Im Falle der Biowissenschaften konnte schuldhaftes Handeln nicht nur daraus resultieren, daß Rassenhygieniker, Anthropologen oder Erbpathologen ihre Wissenschaft als gesellschaftliche Utopie verstanden und sich selbst als Politikberater und Experten berufen fühlten, an deren Umsetzung mitzuwirken. Es konnte auch daraus entstehen, daß Wissenschaftler den sie umgebenden verbrecherischen Kontexten zum Trotz Politikferne für sich in Anspruch nahmen. Sei es, daß sie es unterließen, sich über die Herkunft ihrer menschlichen Präparate zu informieren und Hinweisen auf den Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Mordpolitik nachzugehen. Sei es, daß sie ihre Kenntnisse über die Verfolgung und Ermordung der Menschen, deren Körperteile sie für ihre Experimente verwandten, ignorierten und sich berechtigt fühlten, ihre Erkenntnisinteressen "im Dienste des wissenschaftlichen Fortschritts" ungeachtet aller moralischen Grenzen zu verfolgen.

Im Rahmen der Pressekonferenz wurden darüber hinaus die ersten Publikationen des Forschungsprogramms vorgestellt, die soeben erschienen sind:

  • Doris Kaufmann (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen: Wallstein-Verlag, 2000 (2 Bände, 736 Seiten).
    Rezensionsexemplare können beim Wallstein-Verlag, Planckstr. 23, 37073 Göttingen (Tel. 05 51-5 48 98-0, Fax 05 51-5 48 98-33), angefordert werden.


  • Hans-Walter Schmuhl, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937-1945, Ergebnisse 1. Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus", Berlin, Oktober 2000.


  • Carola Sachse/Benoit Massin, Biowissenschaftliche Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten und die Verbrechen des NS-Regimes. Informationen über den gegenwärtigen Wissensstand, erscheint demnächst in der Reihe "Ergebnisse. Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus".

Die Vorabdrucke sind zu beziehen beim Forschungsprogramm "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus", Wilhelmstr. 44, 10117 Berlin, Tel. 030-2 26 67-154, Fax 030-2 26 67-333, E-Mail: kwg.ns@mpiwg-berlin.mpg.de.

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Christine Rüter, 15. Januar 2001