Pressemitteilung vom 09. Dezember 2002

Naturwissenschaft und Ideologie: Eine vergleichende Perspektive

Im Rahmen des Forschungsprogramms "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" wird der Wissenschaftshistoriker Professor Mark Walker (Union College, Schenectady, New York) am Montag, den 9. Dezember 2002, um 19.00 Uhr im WissenschaftsForum Berlin einen Vortrag halten, der sich mit der Wechselbeziehung von Naturwissenschaft und Ideologie beschäftigt.

Der Vortrag geht von der Frage aus, wie politische und soziale Ideologien die Wissenschaft beeinflussen. Nützen oder schaden sie dem wissenschaftlichen Fortschritt? Oder vereinfacht diese Dichotomie die Sicht der Dinge zu sehr? Üblicherweise gilt Wissenschaft per definitionem als ideologiefrei. Sollte dies unter bestimmten Verhältnissen — und die historischen Beispiele sind evident — nicht der Fall sein, dann wird in aller Regel der Ideologie vorgeworfen, sich unzulässigerweise in die Wissenschaft einzumischen oder diese zu ihrem Schaden zu beeinflussen. Die Diskussion über das Verhältnis von Wissenschaft und Ideologie in den ersten dreißig Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde dominiert von den Auseinandersetzungen mit dem nationalsozialistischen Vermächtnis einerseits und mit dem vom Kalten Krieg ausgehenden Druck auf die Wissenschaften in den Ländern der beiden Machtblöcke andererseits. Diese historisch und politisch eingeschränkte Wahrnehmung hat unser Verständnis der Interaktionsweisen von Wissenschaft und Ideologie nachhaltig beeinflußt.

Ideologien und Wissenschaften können auf mindestens drei unterschiedliche Weisen miteinander interagieren: Ideologischer Druck kann Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wie alle anderen Angehörigen eines Staates oder einer Nation zur politischen Anpassung veranlassen. Ideologische Postulate können aber auch auf die wissenschaftliche Praxis selbst einwirken und diese verändern. Auch wenn wissenschaftliches Grundwissen universal gültig sein mag, so kann die Art und Weise, wie Wissen in verschiedenen politischen Systemen erworben und angewendet wird, dennoch unterschiedlich sein. Schließlich kann die Behauptung von Wissenschaftlichkeit selbst zum gesellschaftspolitischen Ideologen werden.

Welche Bedeutung haben der Nationalsozialismus und der sowjetische Kommunismus, aber auch andere politische Ideologien des 20. Jahrhunderts für die wissenschaftlichen Entwicklungen in ihrem jeweiligen Einflußbereich gehabt? Diese Frage kann kaum allein oder allenfalls kontrafaktisch anhand von Untersuchungen über die Auswirkungen der herrschenden Ideologie auf die Wissenschaft in einem einzelnen Land beantwortet werden. Viel eher können mit Hilfe von Vergleichen der wissenschaftlichen Entwicklungen in verschiedenen ideologischen Systemen Unterschiede und Ähnlichkeiten festgestellt werden und somit Rückschlüsse auf die Beziehungen von Wissenschaft und Ideologie, ihre spezifischen Eigendynamiken, wechselseitigen Einflußnahmen und systemischen Abhängigkeiten gezogen werden. Scientific communities als solche, wenn auch nicht jeder individuelle Wissenschaftler, werden "jedem Herrn dienen". Ebenso verstand noch jedes moderne Gesellschafts- und Industriesystem, sich seine Wissenschaftler nutzbar zu machen.

[Zurück]

Birgit Kolboske, 31. Oktober 2002