Erwirb es um es zu besitzen:
Kulturelles Erbe im Zeitalter der Informationsrevolution

Festvortrag vor dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft,
Jahresversammlung 2001, Essen

Jürgen Renn  1

Bearbeitet von Milena Wazeck

 

Von den Visionen der Naturwissenschaften zu denen der Geisteswissenschaften

Wenn Visionen für die Wissenschaft im 21. Jahrhundert entwickelt werden, ist eines auffällig: Fast immer handelt es sich um die Visionen der Naturforschung. Dabei stehen die Geisteswissenschaften vor ebenso fundamentalen Herausforderungen wie die Naturwissenschaften. Aber brauchen Geisteswissenschaften Visionen?

Gegenstand der Geisteswissenschaften ist das kulturelle Erbe und mit ihm auch die kulturelle Gegenwart der Menschheit, von babylonischen Schrifttafeln über die afghanischen Buddhaskulpturen bis zu den Werken der Dokumenta und den Auseinandersetzungen über das Kyoto-Protokoll. Während Naturwissenschaftler und Techniker ihre Visionen gerne nach olympischen Maßstäben ausrichten und ihre Hoffnungen auf noch schnellere Prozessoren, weitreichendere Teleskope und höher auflösende Analysetechniken setzen, lassen sich für das Studium des kulturellen Erbes scheinbar keine so klar identifizierbaren Fortschrittsdimensionen angeben. Zu verschiedenartig sind offenbar nicht nur die Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung sondern auch die stets vom Geist der Zeit abhängigen Perspektiven, unter denen sie studiert werden.

Die Informationsrevolution - Anlaß zur Technikeuphorie oder zum Kulturpessimismus?

Dennoch gibt es eine Veränderung, die alle Bereiche des kulturellen Erbes betrifft aber angesichts dieser Vielfalt leicht in Vergessenheit zu geraten droht, und gerade deshalb hier im Zentrum stehen soll, die Informationsrevolution. Ist die Informationsrevolution möglicherweise auch eine Kulturrevolution? Was genau die neuen Technologien, die sich mit dem Internet verbinden, für unsere Kultur bedeuten, wird schon seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert. Insbesondere die Pioniere der neuen Technologien verbinden mit ihnen optimistische Zukunftserwartungen. So beschreibt z.B. Nicholas Negroponte, der Begründer des berühmten Media Lab am MIT, seine Vision einer digitalen Kultur:2

Es ist ... wichtig zu erkennen, daß in der Zukunft die digitalen Geräte ganz andere Formen und Größen bekommen werden, als wir sie uns mit unseren derzeitigen Bezugssystemen vorstellen können. ... In einer fernen Zukunft könnten Computerdisplays pro Liter verkauft und vermalt werden; denkbar wären auch die eßbare CD-ROM oder Parallelrechner, die wie Sonnenmilch aufgetragen werden. Zur Abwechslung leben wir dann vielleicht in unseren Computern.

Ein Toaster sollte nicht fähig sein, den Toast zu verbrennen. Statt dessen sollte er mit anderen Geräten reden können. Es wäre wirklich kinderleicht, Ihrem Morgentoast den Börsenschlußwert Ihrer Lieblingsaktien einzubrennen. Doch erst muß der Toaster notwendigerweise mit den Nachrichten verbunden werden.

Die Erwartungen, die das Internet weckt, sind allerdings nicht auf technische Veränderungen unserer Umwelt beschränkt, sondern schließen auch soziale Utopien ein. So schreibt Tim Berners-Lee, der Schöpfer des World Wide Web:3

Wenn wir es schaffen, im Hyperspace eine Struktur zu produzieren, die uns eine harmonische Zusammenarbeit erlaubt, würde dies zu einer Metamorphose führen. Auch wenn dies, wie ich hoffe, schrittweise geschieht, würde es in einer immensen Neustrukturierung der Gesellschaft resultieren.

Ein Wissenschaftshistoriker fühlt sich durch diesen Fortschrittsoptimismus an frühere Beispiele von Technikeuphorie erinnert. So schrieb 1924 Graf Arco, der Direktor der Telefunken-Gesellschaft:4

Der Rundfunksender ist der Tod mittelalterlicher Intrigen und der verzopften Diplomatie. Der Rundfunksender ist der zukünftige Sprecher der öffentlichen Meinung, nicht nur der Europas, sondern überall in der ganzen Welt. ... Radio wird als Ferment das kommende Europa beschleunigen. Radio ist unsere größte Hoffnung in einem Zeitpunkt, wo das alte Europa und mit ihm Menschlichkeit und Kulturgüter am Rande des Unterganges stehen. Möge die elektrische Welle des Rundfunks uns die Rettung bringen.

Die Indienstnahme des Radios durch die politische Propaganda des NS als ,Volksempfänger" hat solche optimistischen Erwartungen allerdings schnell gedämpft.

Auch das Internet hat inzwischen Anlaß zu skeptischeren Einschätzungen gegeben und ist, insbesondere in Deutschland, zu einem beliebten Gegenstand von Kulturkritik geworden. Schriftsteller so verschieden wie Günther Grass, Hans-Magnus Enzensberger und Johannes Mario Simmel sind sich darin offenbar einig. Sie sehen im Internet entweder eine Unbill wenn nicht eine Gefahr für die Kultur, der man mit einer ,Ökologie der Vermeidung"5 begegnen sollte oder halten es letztlich einfach nur für belanglos. So gibt sich Günther Grass überzeugt:6

Die Faszination des Internets ist begrenzt, damit wird man eine Zeit lang spielen. Aber diese Pseudo-Kommunikation ist etwas für kleine und mittlere Talente. Alles wird wieder aufs Buch zurückkommen.

Johann Mario Simmel formuliert es schlichter:7

Ich hasse das Internet.

Er befindet sich mit seiner ablehnenden Haltung, nach einer im März veröffentlichten Umfrage, im Einklang mit 43 % der deutschen Bevölkerung.8

Von den Feuilletons zur Praxis

Während Propheten und Kritiker noch im Feuilleton darüber räsonieren, was das neue Medium für die Kultur zu bedeuten hat, und das große Publikum abseits steht, vollzieht sich in der Praxis ein radikaler Umbruch. Die Entwicklung ist so rasant, ja fast hektisch, daß sie nur mit einem Goldrausch zu vergleichen ist. Das gilt nicht nur für die raschen Auf- und Abschwünge der Internet-Startups, sondern ganz spezifisch für die Kultur als Ressource für Geschäfte mit den neuen Medien. Hier fallen bereits seit einiger Zeit Entscheidungen mit strategischer Bedeutung für die Zukunft des kulturellen Erbes im Internet. Wie im Goldrausch werden im Kulturbereich Rechte aufgekauft, Claims abgesteckt und Portale errichtet - offenbar in der Hoffnung auf immense zukünftige Gewinne. Bereits 1989 gründete Bill Gates eine Firma zur Sammlung und Digitalisierung von Bildern aller Art. 1994 kaufte er für 47 Millionen Mark den Codex Leicester von Leonardo da Vinci, 1995 das etwa 17 Millionen Fotos umfassende Bettmann-Archiv, 1996 die Rechte am Lebenswerk des Fotografen Ansel Adams.9 Ebenfalls in den 90er Jahren erwarb der japanische Fernsehsender NTV Exklusivrechte an den Michelangelo-Fresken der Sixtinischen Kapelle.10

Auch Museen bereiten sich ihrerseits auf den Einstieg ins Online-Geschäft vor. Das New Yorker Guggenheim-Museum etwa webt zur Zeit an einem kommerziell ausgerichteten internationalen Netzwerk von Museen und Investoren. Zu den Zielen dieses Netzwerkes gehört es, von Millionen von Kunstwerken digitale Reproduktionen herzustellen, die dann allerdings nicht als Kulturgut im Internet frei verfügbar gemacht werden, sondern vor allem kommerziell genutzt werden sollen.11 Vorbild solcher Bestrebungen ist Bill Gates, dessen neuester Coup in der Einlagerung des Bettmann-Archivs in einen Stollen besteht -geschützt vor dem Zugriff der Wissenschaft und in digitalisierter Form zugänglich nur gegen Gebühr.12 So hofft man vielerorts auf Millionenzuwächse durch die weltweite Vermarktung von Bildrechten.

Erwirb es um es zu besitzen! Diese banale Verkürzung des Goetheschen Wortes ist heute offensichtlich keine Vision mehr sondern gängige Praxis im Umgang mit dem kulturellen Erbe in der Informationsrevolution.

Vom Goldrausch zur Besiedelung eines neuen Kontinents

Dennoch haftet den Versuchen, aus dem Kulturerbe der Menschheit lukrative Claims zur kommerziellen Ausbeutung in den neuen Medien herauszuschneiden, noch etwas Provisorisches an. Nicht nur daß die Gewinnaussichten höchst spekulativ sind und viele mitreißen, die eigentlich gar keine begründete Hoffnung auf Teilhabe am Profit haben. Während sich nämlich aus der Digitalisierung von Leonardos Codex wirklich ein Geschäft machen läßt, gilt dies wohl kaum für die Tonscherben und Gründungsurkunden jedes Heimatmuseums. Das hält aber viele Museen und Bibliotheken überall in der Welt keineswegs davon ab, bereits jetzt in der Hoffnung auf eine zukünftige Kommerzialisierung ihrer Schätze, diese schon einmal vorsorglich unter Verschluß zu halten und eine Verfügbarmachung im Internet zu "bloß wissenschaftlichen" Zwecken jedenfalls abzulehnen.

Der ungesicherte Status der neuen Pfründe hat aber noch einen anderen Grund. Zugleich mit den Aussichten, im Kulturbereich gewinnträchtige Claims abzustecken, sind nämlich andererseits auch neue Möglichkeiten entstanden, diese Claims zu unterlaufen, wie die Kontroverse um die Musiktauschbörse Napster eindrucksvoll gezeigt hat. Und wie im amerikanischen Westen zur Zeit des Goldrauschs, hat angesichts solcher Konflikte der Ruf nach dem Sheriff und nach Law und Order, in diesem Falle nach einer Anpassung und Verschärfung des Urheberrechts, nicht lange auf sich warten lassen. Aber vor dem Hintergrund der kulturpolitischen Tragweite der Auseinandersetzung und ihrer unabsehbaren Konsequenzen für die Zukunft des kulturellen Erbes im neuen Medium sind auch Experten uneins darüber, wie die Lage zu beurteilen ist.

So sieht der Journalist Jörg Albrecht in einer ,Erosion des Urheberrechts" eine Hauptgefahr nicht nur für die Zukunft der Kultur im Internet:13

Von der Erosion der Urheberrechte sind nicht bloß Bertelsmann oder Sony betroffen. Ausgehöhlt wird der Kern der Informationsgesellschaft, und damit gerät das Massenmedium Internet in die Sackgasse. Denn Inhalt zum Nulltarif wird auf die Dauer nicht zu haben sein.

Thomas Hoeren, Jura-Professor an der Universität Münster und Mitglied des Fachausschusses Kommunikation der deutschen UNESCO Kommission, warnt demgegenüber vor einer Verschärfung des Urheberrechts:14

Zu studieren, lernen, und wissen zu wollen dieses Privileg droht urheberrechtlich zerstört zu werden. Das jahrhundertealte Wissen darum, wie wichtig der Zugang zu Informationen für Schulen und Universitäten ist, wird durch die Gier der Industrie nach möglichst extensivem Schutz aller Investitionen überrollt.

Die Diskussion ist offenbar grundsätzlicher Natur. Ungeklärt ist insbesondere auch das Verhältnis von öffentlicher Wissenschaft und kommerzieller Informationswirtschaft. In einem Memorandum zur Zukunft der Fachinformation zeigen sich prominente deutsche Wissenschaftler besorgt, daß in Zukunft "die Wissenschaft ihre eigenen Produkte von der Wirtschaft zurückkaufen muß" und fordern ein einjähriges Moratorium, "in dem keine grundlegenden strukturellen Entscheidungen von Seiten der Politik" getroffen werden sollen.15 Sie hoffen, daß durch ein solches Moratorium Zeit zum Überdenken festgefahrener Positionen gewonnen werden kann.

Aber längst sind auch im politischen und juristischen Bereich Entscheidungen gefallen - mit weittragenden Konsequenzen für die Verfügbarkeit des kulturellen Erbes in einem zukünftigen Netz. Don Heath, der Präsident der Internet Society, hatte noch 1999 gewarnt:16

Das Internet braucht keine Gesetze, die seine Leistung drücken, seine Arterien verstopfen und seinen Wert für die Nutzer schmälern.

Dennoch hat sich im Februar dieses Jahres das Parlament der Europäischen Union auf eine Verschärfung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft festgelegt.17 Während die neue Richtlinie die Stellung der Rechteinhaber stärkt, sind ihre Konsequenzen für die öffentliche Verfügbarkeit digitalisierter Information so problematisch, daß deutsche Europaabgeordnete bereits von einer Bedrohung des europäischen Kulturerbes sprechen.18

Während nun die einen diskutieren und die anderen entscheiden, muß sich derjenige, der heute im Internet nach der Kultur sucht, auf eine verblüffende Entdeckung gefaßt machen: es gibt sie nämlich nur in einem - im Vergleich zum Informationsmüll - verschwindend geringen Umfang. Das ist es wohl auch, was Skeptiker wie Grass oder Enzensberger zu Recht besorgt macht: Was Kultur betrifft, ist das Internet überraschend leer. Es ist daher nicht verwunderlich, daß politische Diskussionen und juristische Entscheidungen überwiegend Bezug nehmen auf solche Größen der Gegenwartskultur wie Madonna, Eros Ramazotti, den Spice Girls oder Marius Müller-Westernhagen. Wer dagegen etwa nach Einsteins gesammelten Schriften im Internet sucht, der sucht vergeblich.

Bei näherem Hinsehen erweist sich also die kommerzielle Ausbeutung des digitalisierten Kulturerbes als Raubbau an einem knappen Rohstoff. Der Versuch der Durchsetzung von Law und Order allein kann nichts am Goldrauschcharakter der Epoche ändern. Ohne Investitionen, die nicht nur eine zukunftsfähige Infrastruktur garantieren, sondern sie vor allem auch mit Leben erfüllen, werden die Portale für Kultur im Internet wohl leere Geisterstädte bleiben. Wie einst im Goldrausch des amerikanischen Westens, so wird auch in der heutigen Informationsrevolution oft übersehen, daß die Zukunft in der Besiedelung und Zivilisation eines neuen Kontinents und nicht nur in der Ausbeutung seiner Rohstoffe liegt. Was dies für das Kulturerbe und für die Wissenschaft im Zeitalter des Internets bedeuten kann, möchte ich im Folgenden näher erläutern.

Von der Gutenberg- zur Internet-Ara

Um die Herausforderungen der Informationsrevolution zu ermessen, ist es zunächst einmal notwendig, einen Blick auf die neuen Möglichkeiten zur Produktion, Verteilung und Rezeption von Information, insbesondere wissenschaftlicher Informationen zu werfen.

Daß ein neues Medium Rückwirkungen auf die Strukturierung von Information und Informationskreislauf haben kann, ist aus der Sicht der Wissenschaftsgeschichte nicht überraschend. Aus dieser Perspektive ist z.B. die Tatsache, daß ein Zeitschriftenartikel normalerweise in Abschnitte gegliedert ist, einen Titel und einen Autor hat, durch einen Verleger gedruckt und verteilt wird, keineswegs ein Naturgesetz sondern das Ergebnis historisch bedingter Produktionsformen, die an ein bestimmtes Medium gebunden sind. Kurzum, diese Tatsache ist ein Charakteristikum der Gutenberg-Ara, die jetzt im Begriff ist, durch eine neue Ara abgelöst zu werden, die sich durch folgende Charakteristika auszeichnet:

Erstens: In der Internet-Ara wird Information zum Flickenteppich. Es gibt insbesondere keinen Grund mehr, warum Veröffentlichungen durch traditionelle technische Formen wie Bücher oder Zeitschriftenartikel begrenzt sein sollen. Im neuen Medium können Veröffentlichungen auch den Charakter von über das ganze Netz verstreuten Dokumentsammlungen, von digitalen Archiven, von Einträgen in Datenbanken oder von Hyperlinks besitzen. Diese Vielfalt bietet nicht nur unerahnte neue Möglichkeiten der Organisation von Wissen, sondern macht es auch möglich, Wissen zu repräsentieren, das sich den traditionellen Verteilungsmechanismen bisher entzogen hat. Die Möglichkeit etwa, Computerprogramme, Rohdaten aus den Experimenten der Naturwissenschaft, aber auch Bilder historischer Quellen im Netz verfügbar zu machen, eröffnet ein "Informationshinterland", das bisher nicht öffentlich zugänglich war.

Zweitens: In der Internet-Ara lassen sich Informationen von jedem Teilnehmer praktisch ohne Zeitverlust, vor allem aber mit vergleichsweise geringen Kosten über das ganze Netz verbreiten.

Drittens: In der Internet-Ara läßt sich die Qualität und der Wert von Informationen unmittelbar an ihrer Nutzung ablesen. Wenn ein Wissenschaftler die elektronische Version seiner Arbeit über einen Server im Netz veröffentlicht, kann er oft schon innerhalb von Stunden an den Reaktionen anderer Wissenschaftler ablesen, ob seine Ergebnisse entweder zur Grundlage weiterführender Forschungen geworden sind oder sich als unhaltbar erwiesen haben. Diese Reaktionskette ist schon heute oft bedeutender für die Bewertung einer wissenschaftlichen Leistung als das langwierige Verfahren der Begutachtung durch eine kleine Gruppe ausgewählter Fachleute, das sog. Peer-review-Verfahren. Ein schlagendes Beispiel für die Wirksamkeit dieser selbstreflexiven Dimension des neuen Mediums ist die Geschichte der kalten Fusion, die sich in den elektronisch geführten Diskussionen schon längst als Windei erledigt hatte, als Gutachter von Fachzeitschriften und Förderorganisationen immer noch mit der Bearbeitung von Manuskripten und Anträgen beschäftigt waren.19

Das ungenutzte Potential

Die Nutzung dieses Potentials verlangt weitreichende Anderungen im Kreislauf wissenschaftlicher Information. Bibliotheken, Verlage, Museen, Archive, aber auch die Wissenschaftsorganisationen müssen dabei neue Rollen übernehmen. Gerade das aber fällt vielen Beteiligten schwer. Die wissenschaftliche Verlage z.B. bestehen weitgehend darauf, alte Formate wie Zeitschriftenartikel und Einzelabonnements zu wahren, und das bei jährlich zweistelligen Preissteigerungen, die wissenschaftliche Institutionen zu Abbestellungen zwingen, obwohl die neuen Medien die Kosten für die Verteilung von Information im Prinzip gesenkt haben. Und obwohl die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse den Löwenanteil der Gesamtkosten ausmacht, gehen die Verlage wissenschaftlicher Zeitschriften wie selbstverständlich von einem Besitzrecht an den publizierten Ergebnissen aus, deren elektronische Form der Wissenschaft zur Zeit im Rahmen von überteuerten Leasingverträgen angeboten wird. Strukturelle Probleme wie das der langfristigen Archivierung elektronischer Zeitschriften bleiben dabei ungelöst.

Daß diese Situation für die Wissenschaft untragbar geworden ist, zeigt eine im Frühjahr dieses Jahres publik gemachte Initiative von fast 25000 Wissenschaftlern aus 166 Ländern - vornehmlich aus dem Bereich der Biowissenschaften -, die vom Medizin-Nobelpreisträger und ehemaligen Präsidenten der amerikanischen National Institutes of Health, Harold Varmus, ausgegangen ist.20 Die Initiative fordert, daß in einer Fachzeitschrift veröffentlichte Artikel nach Ablauf einer Frist von 6 Monaten in einer öffentlichen Datenbank frei verfügbar gemacht werden sollen. Die Wissenschaftler drohen damit, andernfalls nicht mehr als Herausgeber, Gutachter und Autoren zur Verfügung zu stehen.

Diese Drohung hat Substanz, da die Naturwissenschaftler längst dazu übergegangen sind, sich ihre eigenen frei zugänglichen elektronischen Distributionssysteme zu schaffen, vom berühmten Los Alamos Preprint Server für Physik (http://xxx.lanl.gov) bis zu den im Netz verfügbaren Daten der Satellitenastronomie (http://archive.
stsci.edu) und der Genomforschung (http://gdbwww.gdb.org).

Wie aber steht es mit der Kultur im Internet, mit historischen Dokumenten, mit den Zeugnissen vergangener und gegenwärtiger Kunst, Wissenschaft, Technik und Literatur, mit Filmdokumenten über Sozial- und Sprachverhalten, mit Tondokumenten über die Musik der Welt, kurzum mit der empirischen Grundlage der Geistes-, Verhal-tens-, Sozial- und Kulturwissenschaften?

Während die Naturwissenschaften die neuen Möglichkeiten extensiv nutzen, drohen die Humanities den Anschluß an die Entwicklung zu verlieren. Projekte, die die Quellen unserer Kultur für wissenschaftliche Arbeit, aber auch als Ressource für öffentliche Diskussionen im Netz verfügbar machen, sind immer noch rar. Dabei ist jedenfalls die Digitalisierung von Quellen und ihre Verteilung im Internet technisch kein Problem. Die Geisteswissenschaften sind hier im Prinzip in einer ähnlich singulären historischen Situation wie die Lebenswissenschaften. In beiden Fällen ist etwas vor kurzem noch schier Undenkbares heute technisch möglich geworden, hier eine Datenbank des gesamten menschlichen Genoms, dort ein elektronisches Archiv des kulturellen Erbes der Menschheit. Natürlich ist die Kartierung des menschlichen Genoms nicht der Schlüssel zu allen Problemen der Humanmedizin. Aber sie war machbar, wird nützlich sein und wurde, wenn auch unter vielfachen Widerständen, entschlossen angepackt.

In den Geisteswissenschaften sind wir dagegen noch meilenweit von einer solchen gemeinsamen Anstrengung entfernt. Noch immer finanzieren öffentliche Institutionen einsame Gelehrte, die an Editionen arbeiten, die auf Jahrzehnte, wenn nicht auf Jahrhunderte angelegt sind, und in der Zwischenzeit mehr oder weniger exklusive Zugangsrechte zu den Quellen beanspruchen. Noch immer hüten Archive ihre Schätze und zwingen Gelehrte dazu, lange Reisen auf sich zu nehmen, nur um z.B. anhand eines Manuskripts eine Formulierung zu kontrollieren. Und während Geisteswissenschaftler kaum damit begonnen haben, die Kompetenzlücke zwischen ihren Disziplinen und den neuen Technologien zu erkennen und zu überbrükken, droht das kulturelle Erbe, sich durch Kommerzialisierung der wissenschaftlichen Verfügbarkeit zu entziehen. Doch weder die Risiken noch die Chancen moderner Geisteswissenschaft spielen bisher in der öffentlichen Diskussion und bei Entscheidungen über Law und Order in der digitalen Welt eine wesentliche Rolle. Auch deshalb will ich im Folgenden versuchen, vor allem die intellektuellen Chancen zu skizzieren, die sich durch die neuen Medien für geisteswissenschaftliche Forschung eröffnen.

Das Internet als Herausforderung und Chance für die Kulturwissenschaften

Einige Pionierprojekte zeigen in der Tat bereits heute, was man von zukünftigen Entwicklungen erwarten kann, wenn sie denn angesichts der Restriktionen des Urheberrechts und des wachsenden Kommerzialisierungsdrucks realisierbar bleiben. Das Internet bietet insbesondere die Chance zusammenzuführen, was durch die Wechselfälle der Geschichte oder auch die Spezialisierung der Forschung getrennt wurde. Dabei könnten digitale Laboratorien der Geisteswissenschaft entstehen, nicht nur als virtuelle Zauberwelten, die Besucher von Museen beeindrucken, sondern auch als Forschungsressource, die es erlaubt, innovativen Fragestellungen nachzugehen.

Die Archive der alten Hochkulturen z.B., wie etwa die Keilschriftarchive der Babylonier, die heute über Museen und Sammler in der ganzen Welt verstreut sind, haben durch das Internet eine Chance, wenigstens virtuell wieder rekonstruiert zu werden. Eine solche Rekonstruktion könnte für die Geschichte der alten Welt das moderne Gegenstück zum berühmten Rosettastein werden, der die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen ermöglicht hat. Die babylonischen Archive gewähren in der Tat nicht nur einzigartige Einblicke in die komplexen Verwaltungsvorgänge von Stadtstaaten und Großreichen, sondern auch in die Entstehung fundamentaler kultureller Errungenschaften wie Literatur und Mathematik. Ein internationales Projekt, die ,Cuneiform Digital Library Initiative" (http://cdli.
ucla.edu), hat inzwischen damit begonnen, gestützt auf die keineswegs selbstverständliche Kooperationsbereitschaft von Institutionen wie dem Pergamon Museum in Berlin und der Eremitage in St. Petersburg, eine digitale Bibliothek der Hunderttausende von Texten umfassenden Keilschriftliteratur frei im Netz verfügbar zu machen und damit die vorderasiatischen Altertumskunde, heutzutage eher ein Orchideenfach, zu einem Vorreiter moderner Geisteswissenschaft zu machen.

In ähnlicher Weise ließen sich auch die über Ausgrabungsstätten, Museen, und Bibliotheken verteilten Informationsscherben des Bildes einer antiken Stadt wiederzusammenfügen, um z.B. ein virtuelles Pompeji erstehen zu lassen. Dann würden insbesondere auch die üblicherweise in den Asservatenkammern verborgenen Gegenstände der Alltagskultur wieder zur Geltung kommen und eine Grundlage für die Beantwortung von Fragen liefern, die nicht nur antiquarischen Charakter haben, sondern auch aus aktueller Perspektive interessant sind, z.B. Fragen nach dem Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen, nach der medizinischen Versorgung oder der Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Gewerken.

Quellen sind für die historisch arbeitenden Geisteswissenschaften, was Meßdaten für Naturwissenschaftler sind, die empirische Grundlage, auf die Theorien gegründet werden, und an der sie sich bewähren müssen. Es ist daher zu erwarten, daß radikale Veränderungen im Umgang mit Quellen auch grundlegende Veränderungen im Wissensgebäude der Geisteswissenschaften nach sich ziehen werden. Insbesondere die Disziplinstrukturen werden sich den neuen Möglichkeiten anpassen müssen. Sie werden weniger an bestimmten Quellen und den Schwierigkeiten ihrer Bearbeitung orientiert sein, als an den zu verstehenden Gegenstandsbereichen.

Auch hier zeigen Pionierprojekte bereits jetzt, welche Entwicklungen denkbar sind. Das amerikanische Perseus-Projekt z.B. (www.perseus.tufts.edu) hat in großem Umfang Quellen der altgriechischen Kultur im Internet verfügbar gemacht. Zu diesen Quellen gehören nicht nur praktisch sämtliche Texte der griechischen Literatur, dazu philosophische und wissenschaftliche Texte, sondern auch archäologische Karten, Abbilder von Skulpturen und Vasenbilder. Die Verfügbarkeit eines solchen umfassenden und miteinander vernetzten Kompendiums im Internet trägt dazu bei, die Grenzen zwischen traditionellen Disziplinen wie Archäologie, Altphilologie, Kunst-, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zugunsten eines gesamtheitlichen Studiums der griechischen Kultur zu überwinden.

Aber das Perseus Projekt hat zur Überwindung von Disziplingrenzen auch durch die Entwicklung elektronischer Instrumente beigetragen, die Forschung dadurch unterstützen, daß sie kognitive Kompetenzen auf den Computer übertragen. Beispielsweise läßt sich mit solchen Instrumenten jedes Wort eines griechischen Textes per Mausklick grammatisch analysieren und mit einem Eintrag in einem griechisch-englischen Lexikon verbinden. Das eröffnet auch dem Nicht-Experten einen Zugriff auf die griechische Literatur, wie er sonst nur einem studierten Altphilologen möglich ist und erlaubt zugleich, in den Texten nicht nur nach Worten sondern auch nach Bedeutungen zu suchen.

Die gesamtheitliche Rekonstruktion von Objekten der Geisteswissenschaft - wie die Verwaltungsbürokratie eines Großreichs, das antike Pompeji oder die griechische Kultur - im virtuellen Raum eines digitalen Laboratoriums eröffnet der Forschung die Möglichkeit, strukturelle Fragen zu bearbeiten, die üblicherweise aufgrund der zunehmenden Spezialisierung als zu riskant gelten. Welcher Wissenschaftshistoriker etwa würde es heute noch wagen, ein umfassendes Werk zu schreiben, das die Entwicklung des mechanischen Weltbildes von seinen frühesten Ursprüngen in der Antike bis in die Moderne verfolgt? Wenn aber die Chancen, die sich den Geisteswissenschaften durch die Informationsrevolution bieten, genutzt werden, dann wird es jetzt zum ersten Mal möglich, solche Fragen, die langfristige Entwicklungszusammenhänge betreffen, nicht nur anhand von Fallstudien oder in kursorischen Essays sondern auf breiter empirischer Grundlage zu bearbeiten. Nur auf einer solchen Grundlage lassen sich z.B. Fragen wie die nach den Bedingungen und den Strukturen der großen wissenschaftlichen Revolutionen, durch die das mechanische Weltbild in der frühen Neuzeit etabliert und in der Moderne wieder überwunden wurde, überzeugend klären.

Wenn es also gelingt, die Schlüsseldokumente unserer Kultur in das neue Medium zu übertragen, dann könnten die Geistes- und Kulturwissenschaften einen unerhörten Innovationsschub erleben. Wenn dies aber nicht gelingen sollte, dann wird wohl auch das kulturelle Erbe selbst in der Wissensgesellschaft unweigerlich eine immer marginalere Rolle spielen.

Kultur als Herausforderung und Chance für das Internet

"Was du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen." Goethes Wort ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur als Herausforderung an die Geisteswissenschaften zu verstehen, sich das Überlieferte vor dem Hintergrund revolutionärer technischer Möglichkeiten neu anzueignen. Dieses Wort kann auch als eine Herausforderung an die Internetgesellschaft gelesen werden, das Potential der durch Kultur überlieferten Menschheitserfahrungen für die Gestaltung der zukünftigen Entwicklungen nicht zu vergessen. Schlagwortartig ausgedrückt: Nicht nur sollte die Kultur internetfähig werden, sondern das Internet auch kulturfähig! Ich will es aber nicht bei diesem Schlagwort bewenden lassen. Erlauben Sie mir vielmehr, an dieser Stelle etwas technisch zu werden, um Ihnen konkrete Konsequenzen dieser Perspektive vor Augen zu führen.

Die Grundstruktur der im Netz repräsentierten Information besteht zunächst einmal nur in einer Verknüpfung von Zeichen, in diesem Sinne ist das Netz ein "semiotisches" Netz. Erst die Interpretation von Zeichen im Lichte kultureller Traditionen macht aus ihnen die Bedeutungen, auf die es in der Kultur letztlich ankommt. Die Umsetzung von Zeichen in Bedeutungen und von Bedeutungen wiederum in Zeichen werden daher auch Kulturtechniken genannt. Elementare traditionelle Kulturtechniken sind Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Tatsache, daß durch die elektronische Repräsentation auch Operationen mit Zeichen, wie Verweise oder Suchmechanismen, vom Menschen auf ein externes Medium übertragen werden können, schafft die Voraussetzung für eine Revolutionierung der bisher gebräuchlichen Kulturtechniken. Diese Umwälzung kann allerdings nicht allein das Ergebnis technologischer Innovation sein, sondern bedarf auch der Kompetenz derer, die seit jeher Spezialisten im Umgang mit Bedeutungen und ihren Darstellung in verschiedenen Medien sind, der Geistes- und Kulturwissenschaftler.

Elementare Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen zum Beispiel können sich durch das Internet entscheidend verändern. Das Internet bietet insbesondere die Chance, das Lesen zu einer computergestützten Suche nach Konzepten und Bedeutungen in einem universellen Wissensreservoir zu erweitern. Eine solche "semantische" Suche setzt allerdings voraus, daß sich Beziehungen von Konzepten zu Wortfeldern, und von diesen zu den möglichen grammatischen Formen von Worten herstellen lassen. Solche Beziehungsketten sind nun genau das Studienobjekt von Sprach-, Kultur- und Kognitionswissenschaftlern, deren Erkenntnisse deshalb eine Schlüsselrolle spielen könnten bei dem, was aus meiner Sicht zu nichts geringerem als einer zweiten Informationsrevolution führen kann, der Transformation des Internets von einem semiotischen, d.h. zeichengestützten, zu einem semantischen, d.h. bedeutungsgestützten Netzwerk.

Was die Veränderung der Kulturtechnik des Rechnens betrifft, zeichnen sich ähnlich revolutionäre Möglichkeiten ab. Es liegt insbesondere nahe, im Internet die Sprache der Mathematik in ähnlicher Weise auszuweiten wie es bereits mit der natürlichen Sprache geschehen ist. Hier wurden Texte dadurch zu Hypertexten, daß einzelne Textbestandteile nicht nur Bedeutungen tragen, sondern auch mit Operationen wie den Hyperlinks belegt werden können, d.h. mit automatisierten Verweisen auf andere Texte irgendwo im Netz, die ergänzende Informationen bieten und zu denen man mit einem einfachen Mausklick gelangt. Ähnlich ließe sich eine mathematische Formel dadurch zu einer Hyperformel erweitern, daß ihre Bestandteile nicht nur mathematische Bedeutung tragen sondern zugleich Operationen einschließen, die auf andere im Netz verfügbare Informationen zurückgreifen. Dieses würde den Gebrauch der mathematischen Sprache in ähnlicher Weise revolutionieren wie der Übergang vom Text zum Hypertext. Die Realisierung dieser naheliegenden Möglichkeit setzt allerdings eine Infrastruktur des Netzes voraus, die bisher noch nicht existiert. Selbst im Bereich der Mathematik klafft also, genau wie in anderen Geisteswissenschaften, eine beträchtliche Lücke zwischen den prinzipiellen Möglichkeiten und ihrer realen Nutzung durch diejenigen, die über die technischen und ökonomischen Kompetenzen zur Gestaltung der Infrastruktur des Netzes verfügen.

Die Überbrückung genau solcher Lücken ist die Voraussetzung für die Herstellung der Kulturfähigkeit des Internets und damit für die Realisierung der Vision eines semantischen Netzes, das nicht nur Computer miteinander verbindet, die über eine technische Protokollsprache kommunizieren, sondern das Wissensbestände durch die Sprachen der menschlichen Kultur miteinander verknüpft. Dieses Ziel kann allerdings nur durch eine Integration von kultureller und technischer Kompetenz erreicht werden, für die heute noch weitgehend die Voraussetzungen fehlen. Um die Bedingungen zu verstehen, unter denen es gelingen könnte, auf der Grundlage des ,Rohstoffs Information" eine Kultur des Internetzeitalters zu begründen, möchte ich zum Schluß meines Vortrags kurz auf ein historisches Beispiel zurückgreifen.

Wie in keiner anderen Wirtschaftsregion Europas ist es gerade hier im Ruhrgebiet gelungen, aus einem Rohstoff und den Technologien seiner Verarbeitung eine Kultur zu entwickeln, die selbst noch den weitgehenden Verlust der wirtschaftlichen Bedeutung dieses Rohstoffs überdauert hat. Dies konnte nur dadurch gelingen, daß die Geschichte des Kohlebergbaus eben nicht die eines Goldrauschs war und nicht nur in der Ausbeutung von Rohstoffreserven bestand, sondern auch den stetigen Ausbau einer Infrastruktur umfaßte, die heute in der Lage ist, einen grundlegenden Strukturwandel zu bewältigen.

Um Zechentürme, Stahlhütten, und Eisenbahnlinien, den Knotenpunkten und Netzverbindungen der ersten Industrialisierung, hat sich hier eine Industriekultur entwickelt, in der Traditionen verschiedenster Herkunft in ein neues Umfeld übertragen wurden und dort zu einer neuen regionalen Einheit zusammengewachsen sind, einer Einheit, die vielleicht weniger urwüchsig als andere Regionen Deutschlands ist, aber dafür weltoffen und integrationsfähig wie wohl keine zweite. Eine Globalisierung, die zugleich eine regionale Identität stiftet und eine wirtschaftliche und kulturelle Entprovinzialisierung erreicht, das ist im Ruhrgebiet nichts Neues.

Wie die Kultur des Ruhrgebiets so ist auch die zukünftige Kultur des Internets nicht ohne eine Eigendynamik zu denken, deren spezifische Wirkmechanismen man zunächst einmal erkennen und anerkennen muß, um sie zu fördern. Wer etwa aus Angst vor Anarchie oder vor der Bedrohung von Marktmacht das gewaltige Potential der grass-roots Initiativen, die free-ware der Selbsthilfe und der nachbarschaftlichen Solidarität im Global Village der Information beschneiden will, der greift das Internet an seinen kreativen Wurzeln an. Wer aber umgekehrt meint, daß sich die neuen Strukturen, die einer Kultur im Internet Raum geben können, einfach von selbst herstellen werden, der unterschätzt, wieviel Bedacht und Vorsorge die Herstellung von zukunftsfähigen Infrastrukturen durch wirtschaftliche und politische Weichenstellungen erfordern. Dies für das Ruhrgebiet näher auszuführen erübrigt sich hier in der Villa Hügel.

Aber vielleicht darf ich an diesem Ort doch, ein halbes Jahrhundert nach der Begründung der Montanunion, daran erinnern, daß aus einem wirtschaftlichen Potential, das auch Kraftreserve und Zankapfel in zwei Weltkriegen war, durch politische Entscheidungen, die aus der Reflexion auf diese Erfahrungen entstanden, eine supranationale Struktur geschaffen wurde, die zu einer Keimzelle für die europäische Einheit wurde. Die Vollendung dieser Einheit bedarf offensichtlich auch einer kulturellen Integration, um die ökonomischen und politischen Strukturen der Gemeinschaft mit Leben und Sinn zu erfüllen und ihr zugleich als Korrektiv zu dienen. Ohne eine Anstrengung aber, die den im politischen und ökonomischen Bereich unternommenen vergleichbar ist und die dafür sorgt, daß das europäische kulturelle Erbe auch im Zeitalter der Informationsrevolution noch eine Rolle spielt und im Medium der Zukunft präsent ist, läßt sich dieses Ziel wohl kaum erreichen.

Diese Herausforderung gilt nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch Kultur und Kulturwissenschaft, die, wenn sie sich ihr nicht stellen, es wohl verdienen, daß man von ihnen spricht wie Faust in Goethes Tragödie:

Der Trödel, der mit tausendfachem Tand
In dieser Mottenwelt mich dränget?
Hier soll ich finden, was mir fehlt?
...
Weit besser hätt ich doch mein Weniges verpraßt,
Als mit dem Wenigen belastet hier zu schwitzen!
Was du ererbt von Deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen!


1. Für die Recherchen, die die Grundlage zu diesem Vortrag geliefert haben, möchte ich Milena Wazeck sehr herzlich danken. Wertvolle Hinweise verdanke ich außerdem Jochen Büttner, Rainer W. Gerling, Peter Damerow und Urs Schoepflin.

2. Nicholas Negroponte: Total Digital 1997, S. 256 und S. 259.

3. Tim Berners-Lee: Der Web-Report 1999, S. 300-301.

4. Georg von Arco: Radio, Internationalismus, Pazifismus (Die Friedens-Warte 4/7, 1924).

5. Hans-Magnus Enzensberger: Das digitale Evangelium (Der Spiegel 2/2000).

6. Günther Grass (Die Woche 8. 10. 1999).

7. Johannes Mario Simmel (kulturSpiegel, 8/1999).

8. Laut einer Forsa-Umfrage, veröffentlicht vom Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (Berliner Zeitung, 13. 3. 2001).

9. Der Multimilliardär (Die Welt. Wirtschaft online; 10. 4. 2001). Online (Die Zeit 19. 4. 2001).

10. Hartmut Benz: Sponsoring im Vatikan (Neue Züricher Zeitung 5.6.1999).

11. Zerknautschte Kathedrale (Der Spiegel, 14.4.2001).

12. Online (Die Zeit, 19.4.2001).

13. Jörg Albrecht: Wie der Geist zur Beute wird. (Die Zeit, 15. 3. 2001).

14. Thomas Hoeren: Urheberrecht und Bildung - ein neues Spannungsverhältnis? in: Jahrbuch Telekommunikation und Gesellschaft 1998; siehe dazu auch Stefan Krempl: Copyright, in: Telepolis, 11. 7. 1998.

15. Richard Sietmann: Wissenschaftliche IuK-Infrastruktur: Wer löst den gordischen Knoten?

16. Internet Society statement on web caching ban (ISOC Pressemittelung vom 1.März 1999); und Stefan Krempl: Copyright-Richtlinie überdenken! in: Telepolis, 1.3. 1999

17. Armin Medosch: EU verschärft Urheberrechtsschutz im Internet, in: Telepolis, 14. 2. 2001 und Stefan Krempl: Kopieren verboten in: Telepolis, 24. 1. 2001

18. Private Kopien in der EU bleiben straflos (Update) (Spiegelnet, Meldung vom 14. 2. 2001).

19. Vgl. Frank Close: Too Hot to Handle, Princeton 1991.

20. www.publiclibraryofscience.org (Stand 4.7.2001); Florian Rötzer: Wissenschaftler fordern eine zentrale Datenbank für alle Veröffentlichungen in: Telepolis, 26. 3. 2001; Jörg Plath: Ideen fürs Archiv. Der Tagesspiegel 19. 4. 2001 (s.a. www.sciencemag.org/feature/data/hottopics/plsdebatte.shtml).