Pressemitteilung vom 9. Juli 2003

Historische Vergangenheitsbewältigung: Wirtschaft und Wissenschaft im Vergleich

Wirtschafts- und wissenschaftshistorische Forschung erlebt in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung. Ein Grund dafür sind die Entscheidungen von Regierungen, Unternehmen, Organisationen der Wirtschaft und der Wissenschaft, unabhängige Historikerteams zu finanzieren und ihnen ihre Archive aufzuschließen. Damit wurden neue Perspektiven eröffnet: Statt sich nur mit Persönlichkeiten, Unternehmen und Einrichtungen, ihren Taten und Missetaten zu beschäftigen, können jetzt professionelle Netzwerke und kollektive Mentalitäten erforscht werden. Ältere Lesarten des Verhaltens von Wirtschaft und Wissenschaft im "Dritten Reich", seien es die der Alliierten in den Nachkriegsjahren, seien es die der Führungseliten in Wirtschaft und Wissenschaft in den folgenden Jahrzehnten, müssen revidiert werden.

Wie lässt sich der revolutionäre Haltungswandel gegenüber historischer Vergangenheitsbearbeitung erklären? Läßt sich, was geschieht, als "Vergangenheitsbewältigung" beschreiben? Wenn es allein um die Sammelklagen in den USA ginge, würden Rechtsanwälte genügen, Historiker wären nicht erforderlich. Tatsächlich liefen mehrere Entwicklungen aufeinander zu. Erstens hat die historische Erforschung des Nationalsozialismus einen Punkt erreicht, an dem Ideologie wieder ernster genommen und Täterschaft rekonstruiert wird, um kollektive Mentalitäten zu entschlüsseln, Netzwerke zu entwirren und das Verhältnis zwischen individuellem und kollektivem Handeln zu klären. Zweitens treibt der Generationswechsel die Recherchen entscheidend voran. Da die Generation der Opfer von Ausplünderung, Vertreibung, Folter, Lagerhaft, Zwangsarbeit und Menschenversuchen unweigerlich dahinstirbt, wird in Kürze die letzte Gelegenheit zu moralischer und materieller Anerkennung gegenüber den Opfern persönlich vorüber sein. Zugleich wurde die alte durch eine neue Generation von Managern in Wirtschaft und Wissenschaft abgelöst. Angehörige dieser Generation, die nicht durch persönliche Schuld belastet ist, akzeptieren eher die historische und politische Notwendigkeit, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt spiegeln die aktuellen Bemühungen das Gefühl wider, in einer wirtschaftlichen wie auch wissenschaftlichen Umbruchphase zu leben, in der auch den Ereignissen zwischen 1933 und 1945 eine neue Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der Zukunft zukommt. Dies gilt insbesondere für ein sich vereinendes Europa, in dem der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus nicht als ein rein deutsches, sondern auch als ein europäisches Phänomen betrachtet wird.

Die vielfach verknüpfte Entwicklung von Wirtschaft und Wissenschaft fordert zu einem Vergleich der Strategien historischer "Vergangenheitsbewältigung" in beiden Bereichen geradezu heraus: Während des "Dritten Reiches" arbeiteten Wirtschaft und Wissenschaft oft Hand in Hand, um den rassenpolitischen und imperialistischen Zielen des NS-Regimes zu dienen. Nach 1945 verfolgten sie analoge Strategien, um verwerfliche Taten und unbehagliche Fakten zu unterdrücken und stattdessen eine brauchbare Vergangenheit zu konstruieren. Beide Bereiche versuchten sich als Opfer des Nationalsozialismus darzustellen, indem sie dessen Inkompatibilität mit kapitalistischer Organisation bzw. mit "reiner" Forschung behaupteten. Mit ausgeklügelten Strategien der Öffentlichkeitsarbeit versuchten sie immer wieder, Wirtschaft und Wissenschaft als genuine Opposition zum Nationalsozialismus aufzubauen. Allenfalls habe es auch in ihren Reihen einzelne "schwarze Schafe" gegeben, die jedoch den eigentlichen, nämlich unpolitischen Charakter von Wissenschaft und Wirtschaft nicht hätten beeinflussen können. In beiden Fällen wurde auf bewährte Bilder von Wirtschaft und Wissenschaft als Unternehmungen zurückgegriffen, deren fundamentaler Sinn es sei, einem objektiv verstandenen "Gemeinwohl" zu dienen. Diese Selbstwahrnehmung ist inzwischen grundlegend erschüttert. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht gerade dieses Selbstbild, das bereits die vor 1933 vertretenen Wirtschafts- und Wissenschaftsideologien kennzeichnete, zum Verhalten von wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren nach 1933 beigetragen hat.

Es wird sich, wie im Fall von Hermann Josef Abs von der Deutschen Bank und Adolf Butenandt, dem Direktor des KWI für Biochemie und späteren Präsidenten der MPG, vielleicht nie mehr genau feststellen lassen, wieviel sie tatsächlich von den verbrecherischen Vorgängen wußten, an denen sie teilhatten, und in welchem Ausmaß sie persönlich verantwortlich für die Dinge waren, die sich unter ihrer Leitung abgespielt haben. Je mehr man jedoch darüber erfährt, desto besser kann man verstehen, wie die Netzwerke, in die sie eingebettet waren, funktioniert haben. Dann zeigt sich, daß die Akteure in Wissenschaft und Wirtschaft, die sich anfänglich vielleicht nur den Anforderungen des Regimes fügten, zunehmend die Rolle aktiv Handelnder und Beteiligter übernahmen. Statt, wie es später hieß, das Schlimmste zu verhindern, nutzten sie alle Möglichkeiten, die ihnen die nationalsozialistische Rassen- und Eroberungspolitik bot.

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Anke Pötzscher, 10. Juli 2003