Forschungsthemen

Seite aus al-Māturīds Kitāb al-Tawḥīd, aus einem Kapitel über den Beweis, dass die Welt einen Urheber hat. © Hannah C. Erlwein.

Nr 73
Das Unbeobachtbare kennen: Analogien und Analogieschluss in der islamischen Theologie der Vormoderne
Islamische Theologen der Vormoderne verwendeten in ihren Werken häufig Analogien und Analogieschlüsse: zum Zwecke der Erklärung, Klarstellung oder Analyse stellten sie Vergleiche zwischen einer Sache und einer anderen an.

Sie sahen den Analogieschluss als eine wissenschaftliche Methode, die zum Verständnis führen konnte und nannten ihn einen „Weg (sabīl, ṭarīq) zum Wissen“. Dieses Forschungsprojekt – Teil der Forschungsgruppe „Experience in the Premodern Sciences of Soul and Body, ca. 800–1650“, die sich mit einer Überprüfung der weit verbreiteten Ansicht beschäftigt, dass Erfahrung bei der Entstehung des Naturwissens in der Vormoderne eine geringe Bedeutung gespielt habe – versucht zu beurteilen, welche Rolle die Erfahrung im Kontext der vormodernen islamischen Kalām-Wissenschaft oder spekulativen Theologie gespielt hat.

Ein neuer Fokus: Analogie und Analogieschluss im Kalām

Die Bedeutung des Analogieschlusses für die Erweiterung wissenschaftlichen Wissens in Europa ist in der wissenschaftlichen Literatur schon häufig besprochen worden. Zu den häufig zitierten Beispielen bekannter Wissenschaftler, die auf die Analogie zurückgriffen, gehören Francis Bacon, Isaac Newton und Johannes Kepler. Für die Wissenschaftsgeschichte ist es daher interessant zu erkennen, dass der Analogieschluss auch in anderen wissenschaftlichen Traditionen eine wichtige Rolle gespielt hat, so z. B. nachweislich im Kalām. Dieser Wissenschaftszweig florierte im neunten Jahrhundert und wurde zu einer der zentralen Disziplinen der wissenschaftlichen Tradition der islamischen Vormoderne. Seine Vertreter diskutierten Fragen theologischer Natur, wie zum Beispiel Gottesattribute und Prophetentum, aber auch Fragen der Naturphilosophie, wie zum Beispiel die Entstehung der Welt und die Materie, aus der diese gemacht ist.

Islamische Theologen der Vormoderne nutzten verschiedene Formen der Beweisführung und eine Vielzahl wissenschaftlicher Methoden, ebenso bezogen sie sich auf anerkannte religiöse Texte. Die bisherige wissenschaftliche Forschung betrachtete die im Kalām angewandten Methoden oft durch die Linse „Denken contra Offenbarung“. Diese Perspektive unterstreicht, dass die vormodernen Praktizierenden des Kalām die Rolle der menschlichen Vernunft beim Verständnis und der Verteidigung religiöser Lehren betonten, was einen apologetischen Charakter und die Forderung nach vernunftbasierten Beweisen nahelegt. Ein solcher Ansatz lässt die Frage nach der Rolle der Erfahrung in der Kalām-Wissenschaft offen. Die Intention dieses Forschungsprojekts besteht nicht darin, eine umfassende Bestandsaufnahme der Methoden zu erstellen, die islamische Theologen anwandten, um zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen. Vielmehr versucht es stattdessen aufzuzeigen, dass beim Analogieschluss Phänomene als Analogien verwendet wurden, die durch Sinneserfahrung erschließbar sind, um damit Phänomene jenseits der Sinneserfahrung zu verstehen.

 

Mohammed Splits the Moon

Mohammed spaltet den Mond. Illustration aus einem Falnameh, einem persischen Buch über Prophezeiungen aus dem 16. Jahrhundert. Quelle: Sächsische Staats- und Universitätsbibliothek Dresden.

 

Die Frage nach dem Ursprung der Welt

Der Analogieschluss spielte in einer Vielzahl von Kontexten und Fragen, die islamische Theologen diskutierten, eine bedeutende Rolle. Ein Beispiel dafür ist ihre Diskussion der göttlichen Attribute, die sie häufig in Analogie zu menschlichen Attributen interpretierten. Der Mensch, so argumentierten die Theologen, wisse aufgrund des Wissens, das er habe. In Analogie dazu müsse Gott, der im Koran als wissend beschrieben wird, ebenfalls ein Attribut des Wissens besitzen. Dieses Forschungsprojekt befasst sich jedoch mit der Rolle des Analogieschlusses bei der Frage, ob die Welt ihren Ursprung in der Zeit hat – ob ihre Existenz also einen Anfang hat – oder ob sie schon immer existiert hat. Diese Frage hängt mit der Frage zusammen, ob die Welt – die, wie Theologen feststellen würden, einen Ursprung hat – durch eine äußere Ursache entstanden ist oder ob sie sich selbst in ihrer Existenz verwirklicht hat. Diese Frage nach dem Ursprung der Welt nahm im Denken der vormodernen islamischen Theologen aus einer Reihe von Gründen eine herausragende Stellung ein und wird traditionell gleich zu Beginn von Kalām-Abhandlungen untersucht.

Zwar erkannten Theologen, dass ihr Untersuchungsgegenstand jenseits des Verständnisses durch direkte menschliche Erfahrung lag, doch waren sie sicher, dass sich die Frage durch Analogieschluss auf der Grundlage erfahrbarer Phänomene lösen ließ. Die verschiedenen Bezeichnungen für diese Methode, wie z. B. al-istishhād bi’l-shāhid ʿalā al-ghāʾib, dalālat al-shāhid ʿalā al-ghāʾib und al-qiyās, bringen alle die Vorstellung zum Ausdruck, dass bestimmte in der Welt gemachten Erfahrungen als „Beweis“ und als „Analogie“ für die zu untersuchende Frage herangezogen werden können. Eine der Quellen, die in dieser Forschung verwendet werden, ist Ashʿaris (gest. 936 n. Chr.) Kitāb al-Lumaʿ. Ashʿari stellte die Frage: „Was ist der Beweis dafür, dass es einen Schöpfer der Schöpfung gibt?“ Darauf antwortete er:

„Was dies deutlich macht, ist, dass Baumwolle ohne Weber oder Hersteller nicht in gesponnenen Faden und dann in ein gewebtes Kleidungsstück umgewandelt werden kann. Wer Baumwolle nimmt und erwartet, dass sie zu einem gesponnenen Faden und dann zu einem gewebten Kleidungsstück ohne Hersteller oder Weber wird – er ist verrückt und in völliger Unwissenheit! Ebenso derjenige, der ein Ödland betrachtet, in dem es keine Burg gibt, und erwartet, dass sich Ton in einen anderen Zustand verwandelt und sich [als Ziegel] übereinander stapelt, ohne einen Hersteller oder Baumeister – er ist unwissend!“

 

Palace on Qaṣr Island

Türkische Version von ʿAjāʾib al-makhlūqāt (Wunder der Schöpfung) von Zakarīyā al-Qazwīnī. Palast auf der Insel Qaṣr (Indischer Ozean), Walters Manuskript W.659, fol. 154b. Quelle: Walters Art Museum Illuminated Manuscripts.

 

Ashʿari bestätigte hier die Abhängigkeit der Welt von Gott als seinem Schöpfer – ein Phänomen jenseits der Sinneserfahrung – in Analogie zu der Erfahrung, dass menschliche Erzeugnisse für ihre Existenz von einem Handelnden abhängen.

Über ein Jahrhundert später berichtete Juwayni (gest. 1085 n. Chr.) in seinem al-Shāmil über Streitigkeiten zwischen Theologen verschiedener Schulen über den Analogieschluss:

„Du kannst den Schöpfer nicht beweisen, da du leugnest, dass wir Menschen in der beobachtbaren Welt (shāhid) tatsächlich [unsere Taten] vollbringen, doch der Weg, ein Urteil für die unbeobachtbare Welt (ghāʾib) zu treffen, besteht darin, sie mit der beobachtbaren Welt zu verknüpfen!“

Dies bestätigte, dass der einzige Weg, um zu beweisen, dass die Welt von Gott als ihrem Schöpfer abhängt, in Analogie zu menschlichen Handlungen besteht. Dies erforderte jedoch die Bestätigung, dass Menschen die wahren Schöpfer ihrer Handlungen sind – ein viel diskutiertes Problem unter Theologen.

Analogieschlüsse im Kalām verstehen

Die Bedeutung der Erfahrung für Kalām-Praktizierende in den obigen und anderen Beispielen kann besser verstanden werden, wenn bestimmte Fragen gestellt werden. Erstens, welche Arten von Analogien wurden im Kalām verwendet? Welche Arten von Erfahrungen der Welt wurden gesammelt und als Analogien angesehen, und wie haben sie funktioniert? Welche Arten von erfahrbaren Phänomenen sollten etwas über Phänomene aussagen, die der Sinneserfahrung nicht zugänglich sind? Und schließlich, was war die genaue Funktion der Analogien? Stellten sie richtige Argumente dar oder sollten sie lediglich überzeugen? Dieses Projekt untersucht solche Fragen, um die Bedeutung der Erfahrung in den Methoden der Kalām-Praktizierenden, dank derer sie ihr Wissen über die Welt zu erweitern suchten, weiter zu beleuchten.

 

Aristotle teaching

Islamische Illustration von Aristoteles, der einen Studenten unterrichtet. London, British Library MS or. 2784, f. 96r. Quelle: Wikimedia Commons.