Pressemitteilung vom 31. Oktober 2002

Biochemie und Industrie. Der Butenandt-Schering-Arbeitskreis in der NS-Zeit

Als Adolf Butenandt 1939 den Nobelpreis für Chemie für die Erforschung der Keimdrüsenhormone erhielt, war unter den zahlreichen Glückwunschschreiben auch eines des Pharmakonzerns Schering, in dem an die lange Zusammenarbeit zwischen dem Biochemiker und der Forschungsabteilung des Betriebs erinnert wurde. Diese Beziehungen zwischen Butenandts Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Biochemie in Dahlem und der pharmazeutischen Industrie, insbesondere der Schering AG, während der NS-Zeit wird der französische Wissenschaftshistoriker Jean-Paul Gaudillière am 31. Oktober in seinem Vortrag im WissenschaftsForum Berlin analysieren.

Die Diskussion der letzten Jahre um den Chemie-Nobelpreisträger Adolf Butenandt hat sich vor allem auf die Frage konzentriert, ob ein Zusammenhang zwischen dem KWI für Biochemie und den Menschenversuchen besteht, die im Rahmen von Rassenstudien, vor allem im Konzentrationslager Auschwitz durchgeführt worden sind. Um die Praxis der biochemischen Forschung während des Nationalsozialismus zu verstehen, sind jedoch andere Bereiche des Werdegangs des späteren Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft ebenso wichtig. Diese sind Gegenstand des Vortrags.

Zwei Fragekomplexe stehen dabei im Mittelpunkt: Einerseits wird untersucht, wie sich die Beziehungen zwischen den Wissenschaftlern der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Firma Schering entwickelten, und hinterfragt, welchen Einfluß sie auf Richtung und Praxis der biochemischen Forschung nahmen. Zum anderen wird die Art und Weise erörtert, in der sich der Arbeitskreis "Butenandt-Schering" in die wissenschaftliche und industrielle Mobilisierung für den Krieg einfügte, insbesondere hinsichtlich der Beteiligung an der Forschung zu neuen "biologischen" und als essentiell erkannten Medikamenten: Vitamine, Hormone und Antibiotika.

Seit Mitte der dreißiger Jahre bis zum Kriegsende existierte ein Austausch zwischen dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie und Schering, der unterschiedlichste Objekte umfaßte: Drüsenextrakte, chemische Reagenzien, synthetische Moleküle oder Informationen zu chemischen Strukturen. Gleichzeitig etablierte sich aber auch ein System zur Aneignung und Verwertung von Kenntnissen, das sich auf Verhandlungen über Patente und die Bewertung von Reaktionsprotokollen erstreckte und auch finanzielle Zuwendungen einschloß. Ein wichtiger Diskussionspunkt des Vortrags ist daher die Anwesenheit des "unsichtbaren Industriellen" im Labor, mit anderen Worten die Tatsache, daß die biochemische Forschung im KWI tiefgreifend durch die industriellen Interessen und Beiträge von Schering geprägt war. Eine der unerwarteten Folgen dieser Arbeitsteilung zwischen dem KWI für Biochemie und Schering war die Inbesitznahme eines erheblichen Teils der hormonphysiologischen Forschung durch den Pharmakonzern.

Die von Jean-Paul Gaudillière angeregte Analyse der Kriegszeit erhellt auch den Abbau dieses biotechnologischen Netzwerks nach 1945: Stärker als die Zerstörung und Reorganisation zu Kriegsende war es die Logik der wissenschaftlichen und industriellen Mobilisierung des Nationalsozialismus, die zu dieser Entwicklung führte. Schering operierte während des Krieges auf einem Markt, der sich rasant ausweitete - im Falle der Steroidhormone beispielsweise aufgrund der Entwicklung der Reproduktionsmedizin im Kontext der nationalsozialistischen Politik zur Geburtenförderung. Die Firma versuchte dementsprechend ihre Produktionsweise zu verändern, insbesondere um neue Rohstoffe zu nutzen. Im Gegenzug dazu engagierten sich die Forscher des KWI für Biochemie in den verschiedensten Projekten, in denen sie nicht nur biologische Moleküle von therapeutischem Interesse, sondern auch Gene und Viren untersuchten, und derart die Untersuchungsobjekte, Forschungspartner und Finanzierungsquellen vervielfachten. Die Beziehungen von Biochemie und Industrie erfuhren so nach dem Krieg einen tiefgreifenden Wandel.

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Birgit Kolboske, 31. Oktober 2002