Pressemitteilung vom 29. April 2004

Phänogenetik. Ein neues Paradigma am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, 1938-1945

Das 1927 gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik kann als ein Musterbeispiel für die wechselseitige Instrumentalisierung von Wissenschaft und Politik im "Dritten Reich" gelten. In den ersten Jahren des "Dritten Reiches" bewegte sich die Forschungspraxis am Institut vorwiegend in den überkommenen Bahnen der Rassenkunde und Rassenhygiene. Seit 1938 jedoch strebten der Gründungsdirektor Eugen Fischer (1874-1967) und sein Schüler Otmar Frhr. v. Verschuer (1896-1969), der 1942 die Leitung des Instituts übernahm, eine Neuausrichtung der Forschung auf das neue Paradigma der Phänogenetik hin an.

Diesen Paradigmawechsel und seine Folgen für die Forschungspraxis zeichnet Hans-Walter Schmuhl, Privatdozent an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld, in seinem Vortrag nach. Die Phänogenetik rückte die Entwicklung vom Genom zum Phänom und damit den komplexen Interaktionsprozeß zwischen Erbanlagen und Umweltfaktoren bei der Entstehung eines Organismus in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Das neue Paradigma erlaubte es, Disziplinen wie Genetik, Evolutionsbiologie, Embryologie, Medizin und Anthropologie unter einem Dach zusammenzufassen. Methoden wie Zwillingsforschung, Fingerleistengenetik, Blutgruppenforschung und experimentelle Genetik am Tiermodell konnten miteinander kombiniert werden. Unter den Vorzeichen der Phänogenetik näherte sich das Forschungsprogramm des KWI für Anthropologie während des Zweiten Weltkriegs demjenigen des KWI für Biologie unter Alfred Kühn (1885-1968) und des KWI für Biochemie unter Adolf Butenandt (1903-1995) an - es kam zu einem verstärkten wissenschaftlichen Austausch. Der mit dem Konzept der Phänogenetik verknüpfte Fragenkomplex, der zu Beginn der 40er Jahre unter der Bezeichnung Epigenetics auch schon in den Vereinigten Staaten diskutiert wurde, erscheint auch heute, angesichts der Entwicklung der Genetik nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms, hochaktuell.

Mit massiver Unterstützung des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti gelang es Fischer und Verschuer, beträchtliche finanzielle Mittel für die phänogenetische Forschung einzuwerben und die Anerkennung des Instituts als "kriegswichtig" durchzusetzen. Vor allem aber erschlossen sie sich die Möglichkeit, Menschen in Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern, in Ghettos sowie in Heil- und Pflegeanstalten als Versuchsobjekte zu nutzen. Dies gilt insbesondere für das Forschungsprojekt Verschuers über "Spezifische Eiweißkörper". Hier wurden Blutproben aus Auschwitz benutzt, die Josef Mengele (1911-1979) an seinen Mentor Verschuer nach Dahlem schickte. Dieses Projekt sowie das damit in engem Zusammenhang stehende Projekt zur experimentellen Tuberkuloseerbforschung werden im Vortrag als Beispiele für die phänogenetische Forschung eingehender dargestellt.

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Anke Pötzscher, 4. Mai 2004