Pressemitteilung vom 25. Oktober 2001

Agrarische Modernisierung im genetischen Diskurs. Ein Vergleich Deutschland - USA - Sowjetunion, 1925-1939

Im Rahmen des Forschungsprogramms "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" stellt der Kultur- und Wirtschaftsgeograph Michael Flitner am 25. Oktober 2001 um 19.00 Uhr im WissenschaftsForum Berlin die Ergebnisse seiner vergleichenden Untersuchung zur Diskussion um Agrarmodernisierung und Genetik in Deutschland, den USA und der Sowjetunion in den Jahren 1925 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs vor.

In allen drei Ländern fanden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einschneidende Veränderungen in der Entwicklung der landwirtschaftlichen Forschung sowie im Umgang mit pflanzlichem Züchtungsmaterial statt. Den Anstoß dazu gaben u. a. die Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze und die Entstehung der modernen Genetik als wissenschaftlicher Disziplin. Ab Ende der 1920er Jahre entfaltete sich mit staatlicher Unterstützung in den drei Vergleichsländern, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, eine rege Tätigkeit der Erschließung "pflanzlicher Ressourcen", die ihren Ausdruck vor allem in umfangreichen botanischen Sammelexpeditionen fand. Etwa zur selben Zeit fanden mehr oder weniger einschneidende staatliche Interventionen im Saatgutbereich statt. Die Einführung von Sortenprüfungen und die Saatgutverordnung von 1934 führten in Deutschland zu einer drastischen Reduzierung der Sortenzahl. In der Sowjetunion wurde mit der Zwangskollektivierung eine strikte Planwirtschaft im Bereich der Saatgutversorgung eingeführt, die auf Mechanisierung und großflächige Monokulturen setzte. Gleichzeitig wurde das vermeintliche Versagen der Agrarforschung in der Hungerkrise von 1932/33 als Argument gegen die klassische Genetik gewendet und damit dem Lyssenkoismus zur Durchsetzung verholfen. Auch in den USA gab es verschiedene staatliche Versuche zur Regulierung der Saatgutwirtschaft, die zu Zeiten des New Deal auch Produktionseinschränkungen vorsahen, um die Agrarpreise für wichtige Massenprodukte zu stabilisieren. Der untersuchte Zeitraum war international eine Blütezeit eischer Ideen und Programme, die - wie die Pflanzenzüchtung - mit den Fortschritten der genetischen Wissenschaft konfrontiert, durch diese inspiriert und mit Machbarkeitsphantasien angereichert wurden. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA sowie in geringerem Maße in der Sowjetunion entstand dabei ein diskursiver Zusammenhang zwischen einer Selektion höherstehender Menschen bzw. Menschengruppen, die rassisch oder sozial definiert wurden, und der Züchtung landwirtschaftlicher Nutzpflanzen. Dieser Diskurs wurde auch über nationale Grenzen hinweg geführt, und es beteiligten sich daran Wissenschaftler ganz unterschiedlicher politischer Einstellung. Trotz gewisser Parallelen in der Debatte bestanden in der politischen Praxis jedoch deutliche Unterschiede.

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Christine Rüter, 20. November 2001