Pressemitteilung vom 17. Januar 2002

Rassen, Hormone, Gene und Geschlecht: Forschungen an den Kaiser-Wilhelm-Instituten für Biologie und Biochemie 1933-1945

Am 17. Januar berichtete die Biologin und Wissenschaftshistorikerin Helga Satzinger im Wis-senschaftsForum Berlin über vererbungsbiologische Forschungen an den Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituten für Biologie und Biochemie. Insbesondere ging es darum, wie sich die Vorstellungen von der Ordnung der Gene, Enzyme und Hormone aufgrund personeller Veränderungen in der Direktion der Institute verschoben haben. Letztere waren Folge des nationalsozialistischen Antisemitismus. Die politisch brisanten Fragen von Rassereinheit und -mischung, die Eindeutigkeit geschlechtlicher Identität, die Suche nach chemischen "Wirkstoffen" und eindeutigen Genen spielten in den Forschungen eine entscheidende Rolle.

1936 und 1937 übernahmen Adolf Butenandt (1903-1991) und Alfred Kühn (1885-1968) die Stellen des Biochemikers Carl Neuberg (1877-1956) und des Genetikers Richard Goldschmidt (1878-1958). Beide waren entlassen worden und emigrierten in die USA. In enger Zusammenarbeit versuchten Kühn und Butenandt zu klären, wie die "Erbfaktoren" die Ausbildung erblicher Merkmale bewirkten. Sie leisteten damit einen Beitrag zu der Vorstellung von der Wirkungsweise der Gene, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als "ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese" die Genetik dominierte.

Richard Goldschmidt dagegen hatte eine Vorstellung von den Genen entwickelt, wonach diese selbst Enzyme sind und nur im Zusammenhang mit den gesamten erblichen Faktoren des Organismus eine bestimmte Funktion bekommen. Wird durch entsprechende Kreuzungsverfahren der Kontext geändert, ändert sich auch die Wirksamkeit des Gens. Goldschmidts Forschungsansatz basierte auf der Frage, wie Geschlecht vererbt und in der Individualentwicklung ausgebildet wird. In umfangreichen Versuchsserien wurden Tiere verschiedener geographischer Populationen der Mottenart Lymantria dispar gekreuzt. Dabei entstanden Individuen uneindeutigen Geschlechts, sogenannte "Intersexe". Goldschmidt schloß, daß die Vererbung des Geschlechts nicht einfach die Frage eines vorhandenen oder fehlenden Geschlechtschromosoms bzw. Gens sei, sondern daß Gene komplizierter sein mußten.

Für die Vertreter der Rassenhygiene und nordischer Überlegenheitsvorstellungen wurden die "Intersexe" zum Beweis dafür, daß Rassenmischungen beim Menschen zur Verwischung einer klaren Geschlechterordnung und damit zu Degeneration führten. Das Goldschmidtsche Genmodell jedoch übernahmen sie nicht. Ihre Vorstellungen von genau definierbaren Rassenmerkmalen, von Höherzüchtung und klarer Geschlechterdifferenz hingen an der Eindeutigkeit der Gene.

Kühn und Butenandt arbeiteten an eigens für die Forschung hergestellten "reinrassigen" Laborstämmen der Mottenart Ephestia kühnelli, und konnten für die Augenpigmentierung eine eindeutige Beziehung zwischen Genen und den Stoffen, die die Augenfarbe bedingen, herstellen. Nach 1945 sorgten beide für die weitere Stabilisierung der genetischen Forschung innerhalb dieses Paradigmas.

Goldschmidt dagegen verlor durch die erzwungene Emigration seine exzellenten Arbeitsbedingungen und prominente Stellung in der Genetik. Auch in den USA nahm er eine wissenschaftliche Außenseiterposition ein. Jedoch finden seine Arbeiten derzeit aufgrund jüngerer experimenteller Befunde neue Beachtung. Für die Wissenschaftsentwicklung im Nationalsozialismus läßt sich sagen, daß der antisemitisch begründete Abbruch einer genetischen Arbeitsrichtung wenn nicht der einzige, so doch ein Grund dafür war, weshalb die Genetik eine Komplexität in ihren Fragestellungen eingebüßt hat, die heute erst mühsam wieder aufgebaut werden muß.

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Christine Rüter, 31. Januar 2002