Pressemitteilung vom 16. Januar 2003

"Freie" Wissenschaft und personelle "Säuberungen". Die KWG 1933 und 1945.

Einer der berüchtigtsten Aspekte der Wissenschaftsgeschichte im Nationalsozialismus ist die Entlassung von Wissenschaftlern aus rassenpolitischen Gründen, vor allem infolge des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom April 1933. In seinem Vortrag am 16. Januar 2003 im WissenschaftsForum wird der us-amerikanische Wissenschaftshistoriker Richard Beyler zunächst die Reaktion der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) als Institution auf die nationalsozialistische Entlassungspolitik untersuchen. In einem zweiten Schritt wird er diese mit der Reaktion der KWG bzw. ihrer Nachfolgeorganisation, der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), auf die nach 1945 von den alliierten Besatzungskräften verordnete Entnazifizierungspolitik vergleichen.

In beiden Zusammenhängen bedienten sich Leitungsgremien der KWG einer Strategie, die so weit als möglich die "Autonomie" und "Freiheit" von Wissenschaft wahren sollte, so zumindest die Behauptung der Akteure. Was aber machte die "Autonomie" oder "Freiheit" von Wissenschaft in solchen Perioden politisch verordneter Säuberungen aus? Was bedeutete der Versuch, die wissenschaftliche Integrität zu erhalten, wenn zugleich die Karrieren und im Fall des Nationalsozialismus sogar das Leben der Wissenschaftler auf dem Spiel standen?

Beylers Interpretationsansatz geht davon aus, daß alle sozialen Gruppen über bestimmte Regeln zur Exklusion oder Inklusion verfügen. Die Standards dafür sind in der Wissenschaft normalerweise allen Beteiligten relativ deutlich. Sie spiegeln etablierte Autoritätsstrukturen sowohl innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft als auch zwischen dieser und der Gesellschaft wider. Insofern erscheinen Säuberungen als plötzliche und destabilisierende Änderungen der Spielregeln, die die traditionellen Formen disziplinärer Autorität in Frage stellen. Nach 1933, ebenso wie nach 1945, reagierten die Wissenschaftler darauf mit komplexen Debatten über ihre professionelle Identität sowie über die Stabilität der Profession an sich in einer Situation extremer politischer Instabilität.

Nach 1933 gelang es der KWG zunächst, die vollständige Umsetzung des Berufsbeamtengesetzes zu vermeiden oder doch hinauszuzögern. Dabei vollzog sich eine stillschweigende "Selbstangleichung". Einerseits gab es Bemühungen, gefährdete Personen abzuschirmen, insbesondere wenn es sich um Wissenschaftler handelte, deren Arbeiten mit dem jeweiligen Institut identifiziert wurden. Andererseits kam es zu unauffälligen Entlassungen, Nichtverlängerungen von Verträgen oder Ermunterungen, selbst zu kündigen. Diese Politik genereller Kooperation bei gleichzeitiger selektiver Kooperationsverweigerung zielte darauf ab, die institutionelle Integrität weitestgehend zu erhalten und den Pakt zwischen Wissenschaft und Staat neu zu verhandeln, ohne ihn jedoch aufzukündigen.

Nach dem Krieg schlug die zunächst äußerst restriktive Wissenschaftspolitik der Alliierten bald eine wohlwollendere Richtung ein, auch hier wurde der Entnazifizierungsprozeß zudem uneinheitlich und unsystematisch durchgeführt. Wiederum verteidigte die KWG/MPG ihr Konzept der "Integrität" von Wissenschaft, und tatsächlich erwies sich diese Strategie als erfolgreich, die Probleme der Entnazifizierung in zahlreichen Fällen zu umgehen.

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Birgit Kolboske, 15. Januar 2003