Pressemitteilung vom 10. Dezember 2002

Das KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Geschichte des Instituts im internationalen Vergleich

In den letzten zwanzig Jahren ist ein bemerkenswerter Anstieg des wissenschaftlichen Interesses an der Vererbungsforschung und menschlichen Erblehre im "Dritten Reich" zu verzeichnen. Dennoch steht eine befriedigende Analyse bislang aus. Vielmehr stellen sich der Wissenschaftsgeschichte noch immer folgende Fragen als ein Problem dar: Was war das spezifisch nationalsozialistische Element der humangenetischen Wissenschaft in dieser Epoche? Und inwiefern kann es als Erklärung dafür dienen, daß sich zumindest ein Teil der weltweit renommierten deutschen Biomediziner an Handlungen beteiligte, die völlig jenseits der moralischen Grenzen anerkannter wissenschaftlicher Praxis lagen? Die Wissenschaftshistorikerin Professor Sheila Faith Weiss (Clarkson University, Potsdam, New York) wird im Rahmen des Forschungsprogramms "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" am Dienstag, den 10. Dezember 2002, um 19.00 Uhr, im WissenschaftsForum diese Fragen erörtern.

Im Zentrum steht eines der führenden deutschen Forschungsinstitute jener Zeit, das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Professor Weiss vergleicht dessen humangenetische Forschungsansätze mit denen zweier ähnlicher Einrichtungen in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion: dem Eugenics Record Office des Washingtoner Carnegie Institute in Cold Springs Harbor und dem Maxim Gorki Institut für medizinische Genetik in Moskau.

Das von 1927 bis 1945 bestehende KWI für Anthropologie wurde zunächst von dem Freiburger Anthropologen Eugen Fischer (1874-1967) und dann ab 1942 von seinem Studenten und Vertrauten, dem Erbpathologen Otmar Freiherr von Verschuer (1896-1969), geleitet. Wegen dessen notorischer Verbindung nach Auschwitz — Mengele, der Arzt an der Rampe, war der ehrgeizigste Schüler Verschuers — gilt dieses Institut als Symbol einer Wissenschaft jenseits aller Moral.

Der vor diesem Hintergrund provozierende Vergleich zwischen dem KWI für Anthropologie und dem Eugenics Record Office ist dennoch gerechtfertigt. Denn die für die Geschichte der Genetik in den USA zentrale Forschungseinrichtung diente vielen deutschen Rassenhygienikern als Vorbild; es bestanden rege professionelle Verbindungen zwischen den Eugenikern beider Länder. Angesichts auffallender Parallelen zwischen den Fragestellungen und der angewandten Methodologie am KWI für Anthropologie und derjenigen am Moskauer Maxim Gorki Institut drängt sich darüber hinaus ein deutsch-sowjetischer Vergleich auf.

Menschliche Erblehre wurde auch in der Sowjetunion im Kontext eines diktatorischen Systems verfolgt. Dennoch stand die marxistisch-leninistische Staatsideologie dem eugenischen Paradigma eher ablehnend gegenüber. In den USA mögen zwar kapitalistische Ideologie und (markt)wirtschaftliche Praxis mit eugenischem Gedankengut kompatibel gewesen sein, dennoch hat Nordamerika zu keinem Zeitpunkt das eugenische Paradigma als offizielle Ideologie übernommen, noch war es je ein Ein-Parteien-Staat. Selbst als die Freiheiten einiger seiner Bürger/innen durch die Arbeit us-amerikanischer Eugeniker in Gefahr gerieten, boten zivilgesellschaftliche Regeln in den USA jenem Radikalismus Einhalt, der die nationalsozialistische Rassenpolitik kennzeichnete.

So der deutschen Humangenetik ein "spezifisch nationalsozialistisches" Moment zu eigen war, war dieses weder Ausdruck eines deutschen Sonderwegs, noch läßt es sich als ein Element identifizieren, das nur am KWI für Anthropologie, nicht aber an den nicht-deutschen Instituten wirksam gewesen wäre. Vielmehr hatte es mit der intensiven dialektischen Beziehung zwischen der Humangenetik und dem rassenpolitischen Kontext des "Dritten Reichs" zu tun. Diese Beziehung veränderte zum einen die Forschungsmöglichkeiten der Wissenschaftler. Zum anderen trug sie zur Radikalisierung der NS-Rassenpolitik bei, indem sie die wissenschaftliche Legitimierung und biomedizinische Expertise bot, die zur Konstruktion und Durchführung ihrer verbrecherischen Maßnahmen erforderlich war.

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Birgit Kolboske, 10. Dezember 2002