Pressemitteilung vom 5. Juni 2003

Adolf Butenandt als Wissenschaftspolitiker. Reinigungsstrategien und Assoziierungspraktiken, 1945-1960

Nach 1945 sah sich Adolf Butenandt mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe mit den Nationalsozialisten kollaboriert. Dennoch wurde er schon bald einer der erfolgreichsten Wissenschaftspolitiker der Nachkriegszeit. Welche Strategien entwickelte er, um sich von diesen Vorwürfen zu reinigen, und welche Praktiken wandte er an, um seine Handlungsspielräume zu erweitern? Der Hamburger Historiker Heiko Stoff wird diesen Fragen in seinem Vortrag nachgehen.

In der neueren Wissenschaftsgeschichtsschreibung sind die Konstrukte der "Indienstnahme" und des "Mißbrauchs" der Wissenschaft durch die Politik obsolet geworden. Stattdessen wird die enge Vernetzung verschiedener wissenschaftlicher, politischer und industrieller Akteure mit je eigenen, aber kompatiblen Interessen betont. Die Übersetzungsketten zwischen Wissenschaft, Politik und Industrie sowie die damit einhergehenden graduellen Interessenverschiebungen bilden den Kern jeder "Wissenschaftspolitik". Besonders in der Debatte um Butenandts Rolle im Nationalsozialismus werden wirkungsvolle Übersetzungen erkennbar. So läßt sich anhand der Zeugenaussage Butenandts zugunsten des Industriemanagers Heinrich Hörlein im IG Farben-Prozeß zeigen, wie es Butenandt argumentativ gelang, die deutsche Spitzenwissenschaft als "rationale Grundlagenforschung" von der NS-Politik abzusetzen. Hörlein, so Butenandt, habe sich grundsätzlich nicht an den politischen, also "irrationalen" Bedürfnissen des NS-Regimes, sondern an den "rationalen" Kriterien wissenschaftlicher Leistung orientiert.

Butenandts Verteidigungsrede von 1947 offenbart eine Reinigungsstrategie, die auf der epistemologischen Gewißheit aufbaut, daß Wissenschaft und Politik, Grundlagenforschung und angewandte Forschung, ja selbst noch industriell und staatlich angewandte Forschung prinzipiell zu unterscheiden seien. Butenandts wissenschaftliche Praxis zeigt ihn hingegen als unermüdlichen Assoziierer von Wissenschaft, Politik und Industrie. Entscheidende Bedingung der Möglichkeit seiner wissenschaftspolitischen Erfolge war indessen, daß Butenandt sich inmitten eines Netzes von Interessen, Abhängigkeiten und Übereinstimmungen im Nachkriegsdeutschland zu bewegen wußte.

Als Bildungsreformer in der "Gesellschaft deutscher Naturforscher" und im "Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen" trat Butenandt für die Idee einer rationalen Leistungsgesellschaft ein. Für ihn bestand die gesellschaftspolitische Aufgabe der Naturwissenschaften darin, die deutsche Jugend mit rationalem Denken auszurüsten. Sein pädagogisches Projekt formulierte er im Streit mit den Verhaltensbiologen und in der Parteinahme für den Philosophen und Pädagogen Theodor Litt. Es beinhaltete gleichermaßen die Reinigung von "irrationaler", "totalitärer" Ineffizienz und die Verbreitung des "rationalen", "demokratischen" Leistungsgedankens.

Butenandts Wissenschaftspolitik mündete in der Infragestellung der Demarkation von "reiner" Grundlagenforschung und "unreiner" angewandter Forschung durch den Deutschen Forschungsrat (1949-1951). Im Hybridszenario einer modernen Gesellschaft, in der Industrie, Wirtschaft und Forschung unentwirrbar miteinander verknüpft sind, hatte dann auch die epistemologische Reinigungsstrategie ihre Schuldigkeit getan; Assoziierungspraktiken sollten der bundesdeutschen Nachkriegswissenschaft den Weg ebnen.

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Anke Pötzscher, 6. Juni 2003