Pressemitteilung vom 4. Juli 2002

Butenandt und die Blutproben aus Auschwitz. Eine Revision

Die öffentliche Debatte der letzten Jahren um den Chemie-Nobelpreisträger Adolf Butenandt (1903-1995) kreiste vor allem um eine Frage: War der spätere Präsident der Max-Planck-Gesellschaft an Menschenexperimenten beteiligt, die der SS-Arzt Josef Mengele im Konzentrationslager Auschwitz durchführte, oder hatte er zumindest Kenntnis davon? Diese Frage rollt der Biochemiker und Historiker Achim Trunk am 4. Juli in seinem Vortrag im WissenschaftsForum Berlin erneut auf.

Im Mittelpunkt steht dabei ein Forschungsprojekt, das 1943 von Butenandts Kollegen, dem Erbforscher Otmar von Verschuer, seit 1942 Direktor des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, in Angriff genommen wurde. Für dieses Vorhaben benötigte Verschuer zahlreiche Blutproben, die ihm sein früherer Assistent Mengele aus dem KZ Auschwitz lieferte. Als bei den Versuchen methodische Schwierigkeiten auftraten, zog Verschuer einen Mitarbeiter Butenandts hinzu. Zudem tauschten sich Butenandt und Verschuer brieflich über das Projekt aus. Soweit ist das Wissen gesichert.

Was aber war das Ziel des Vorhabens? Der Molekularbiologe Benno Müller-Hill vermutet, Verschuer habe die molekularen Grundlagen der offenbar erhöhten Widerstandsfähigkeit osteuropäischer Juden gegen Tuberkulose - für ihn ein genetisch bedingtes Phänomen - erforschen wollen. Mengele habe hierzu KZ-Gefangene mit Tuberkulose infiziert, ihnen dann Blut abgenommen und die Blutproben an Verschuer gesandt. Dieser habe geglaubt, in dem entnommenen Blut unterschiedlich starke Abwehr-Reaktionen gegen Tuberkulose-Erreger nachweisen zu können, die auf der Bildung von sogenannten Abwehr-Fermenten beruhen sollten, welche ihrerseits gezielt Erregerproteine abbauen würden.

Die Rekonstruktion Müller-Hills wird allgemein akzeptiert. Sie steht aber im Widerspruch zu einigen Aussagen in den heute zugänglichen Dokumenten. So geht aus Verschuers Briefen hervor, daß aus den Blutproben Substrate gewonnen wurden - also das, was Abwehr-Fermente abbauen sollten. Menschliche Abwehr-Fermente werden hingegen weder in den Briefen noch in den Projektberichten erwähnt. Wenn aber nicht die Abwehr-Fermente Gegenstand der Untersuchung waren, kann es auch nicht um die Abwehr-Reaktion gegen Tuberkulose-Erreger gegangen sein. Damit entfällt die Begründung für eine absichtliche Ansteckung von Menschen mit Tuberkulose. Nach damaligem Forschungsstandard hätte man ohnehin versucht, die Abwehr-Fermente im Urin - nicht im Blut - nachzuweisen. Einfache Harnproben hätten also ausgereicht. Die Blutentnahmen bleiben auf diese Weise unerklärt. Noch weitere Widersprüche verstärken die Zweifel.

Achim Trunk schlägt nunmehr eine alternative Rekonstruktion vor, die mit den heute bekannten Quellen übereinstimmt. Danach stellte das Vorhaben einen groß angelegten Versuch zur serologischen Rassediagnose beim Menschen dar. Das Ziel bestand darin, eine Methode zu entwickeln, mit deren Hilfe man vermutete rassische, aber auch familiäre Verwandschaftsbeziehungen sicher diagnostizieren konnte. Auf ähnliche Weise hatte man schon verschiedene Tests auf Rassezugehörigkeit bei Zuchttieren konstruiert. Menschenversuche, die über erzwungene Blutabnahmen hinausgingen, sind für dieses Projekt weder nachweisbar noch plausibel. Das Forschungsvorhaben stand jedoch in einem eindeutigen rassenbiologischen Kontext. Im Erfolgsfalle wäre eine Überführung der Ergebnisse in die rassistische Verfolgungspolitik des NS-Regimes wahrscheinlich gewesen. Auch ohne eine persönliche Verantwortung für verbrecherische Experimente stellte ein solches Projekt für Butenandt nach dem Krieg eine Belastung dar. Dies erklärt seine späteren Bemühungen, die Beziehung zu Verschuer zu verschleiern. Bis heute ist aber nicht eindeutig zu klären, was Butenandt tatsächlich über den Herkunftsort der Blutproben und den Massenmord in Auschwitz wußte.

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Birgit Kolboske, 4. Juli 2002